So im Wandern

[98] Ein silbern klein Herze,

von Golde ein'n Ring,

die gab sie mir, als ich

wandern ging,


und that in das Herze

ihr Bild hinein;

so einsam der Morgen,

bin doch nicht allein ...


Arme Padde im Gleise,

zerquetscht liegst du.

Ich wandre meine Straße

und wandre immer zu.


Schon teilt sich der Nebel

und schimmert die Welt,

im Sonnenschein glitzert

das Aehrenfeld;


die Hummeln summen,

die Lerchen klingen;

die Birken wehen,

die Zweige schwingen;


die Pappeln, die schütteln

die Blätter im Wind;

sie flüstern, sie singen

von meinem fernen Kind.
[99]

Das Herzelein nehm'ich

vom seidenen Band

und leg's in das Ringlein

in meiner Hand,


so streit ich und schau

als ein Zeichen mir's an:

so halt ich in Treuen

ohn Ende Dich umfahn ...


Was rennst, Meister Lampe?

heut jag'ich nicht.

Ich wandre, ich schreite;

die Sonne sticht.


In Dorfes Mitten

der Friedhof sich hebt;

wie wird's gar kühl sich ruhen,

wenn man mich einst begräbt!


zwei weiße Rosen biegen

ums Grabkreuz die Aest,

drauf steht mein Nam geschrieben;

bis der Regen ihn löscht ...


Hinterm Kirchlein die Schenke

heißt »Zu den 3 Linden«;

da wird ein Ruheplätzchen

sich auch wol noch finden!


Ei Tausend, mein Schätzchen:

so schmuck, und allein?

Ei komm doch, rück näher;

trink aus, schenk ein! –
[100]

Na Schätzel, was weinst denn?

Ja, die Welt ist hohl,

die Welt ist ne Flasche:

trink aus! leb wohl! –


Was wackelt der Pfahl da?

der ist wol betrunken!

Ich wandre, ich schreite,

in Sinnen versunken.


Wir war'n ja so alleine;

und sie, sie so weit!

ich will ihr Alles sagen,

bis sie mir verzeiht ...


Und am End meiner Reise

steht mein elterlich Haus,

da schaut mein lieb Mütterchen

am Fenster nach mir aus;


und drinnen sitzt mein Vater,

wie'n König auf sei'm Thron,

und will's nicht verraten,

daß er wart't auf sein'n Sohn ...


Nun will ich nicht sinnen,

ob man glücklich kann werden;

der Himmel ist hoch,

und wir leben auf Erden –

schrumm!

Quelle:
Richard Dehmel: Aber die Liebe. München 1893, S. 98-101.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Jean Paul

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Die unsichtbare Loge. Eine Lebensbeschreibung

Der Held Gustav wird einer Reihe ungewöhnlicher Erziehungsmethoden ausgesetzt. Die ersten acht Jahre seines Lebens verbringt er unter der Erde in der Obhut eines herrnhutischen Erziehers. Danach verläuft er sich im Wald, wird aufgegriffen und musisch erzogen bis er schließlich im Kadettenhaus eine militärische Ausbildung erhält und an einem Fürstenhof landet.

358 Seiten, 14.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon