Natur und Sehnsucht
1.

[76] Schlaflos lieg' ich, wie im Fieber

starr' ich in die Schatten hin,

ob mir eben nicht ihr lieber

Augenstrahl erglänzte drin,


ob nicht solche Grüße brächten

auch zwei Seelen sich von fern,

wie in heitren Sommernächten

fällt vom Himmel Stern zu Stern.


2.

Wie der Mond im Wechsel wandelt

ruhlos je und je,

bis das blasse Antlitz wieder

ihm verklärt die See:


muß ich einsam immer schweifen,

schweifen ohne Ruh' –

ach, wann strahlet Frieden wieder

mir dein Auge zu?!


3.

Aus des Abends weißen Wogen

taucht ein Stern;[76]

still von fern

kommt der blasse Mond gezogen.


Fern, ach fern

aus des Morgens grauen Wogen

langt der stille blasse Bogen

nach dem Stern!


4.

An dem Fluß die alte Stelle

hab' ich suchen müssen,

wo die Weiden niederhängen,

um die Flut zu küssen.


Doch es rinnt die kühle Welle

ungerührt von hinnen:

und ich muß bei ihren Klängen,

Liebste, Deiner sinnen!


5.

Stumm und schwer die Blätter hangen,

regungslos die Bäume stehen,

und ich fühl' ein seltsam Bangen

durch die heißen Lüfte wehen,


bis ins heiße Herz mir zittern,

ob ich flüchte, ob ich weile ...

Oh, ich lechze nach Gewittern!

komm, Geliebte! eile! eile!

Quelle:
Richard Dehmel: Erlösungen, Stuttgart 1891, S. 76-77.
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