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[71] Gestern Nachmittag, meine braune Geliebte,
die du nach Ruhm begehrst vor allen Frauen
deines Volkes, saß ich in einem Treibhaus,
und von allen Palmen und andern Gewächsen
flogen mir neue Gedichte zu.
Hier ist eins von einem Agavenwildling:
Meine Geliebte!
Grau in staubiger Wüste
stand mein dorniges Blattwerk
jahrlang mit durstig schwellendem Fleisch.
Plötzlich schoß über Nacht
ein steiler Schaft, knospengekrönt,
aus dem staubgrauen Schooß
in die feurige Morgenluft.
Schick mir zu Mittag, Geliebte,[72]
deine tausend durstigen braunen Bienen:
viertausend goldgelbe Blütenglöckchen
haben sich aufgethan und triefen,
triefen, triefen von Honigsaft.
Oder eins von einer verschulten Musa:
Meine Geliebte!
Wen mit deinen üppig langen
Blättern willst du denn umfangen,
die du überreichlich treibst?
Fühlst du nicht den Abend glühen?
Wenn du ohne Blüte bleibst,
Schönste, kannst du nie verblühen,
Aermste, nie mit Früchten prangen.
Oder von einer seltnen Wasserviole:
Meine Geliebte!
Mondblau steht mein Kahn,
himmeltief der See;
fern beim hellen Uferschilf[73]
ziehn zwei weiße Enten
ihre Bahn.
Sehnsüchtig und rot
spiegelt sich mein Mund:
tauche auf, Geliebte, Dunkle,
aus dem blauen Grund,
hol mich in den Himmel!
Oder von einem gewöhnlichen Igelkaktus:
Meine Geliebte!
Ich bin so rund wie die Erde,
mein Fleisch hat Heilkraft,
und meine Blume ist zum Küssen schön.
Aber hebe mich nicht aus meinem Erdreich:
mein Fleisch hat Stacheln,
und leicht entroll' ich deiner Hand.
Willst du mich küssen,
bitte, knie nieder!
Solche Gedichte, meine braune Geliebte,[74]
könnt' ich dir noch viertausend und einige dichten
an Einem Nachmittag,
und die würden meine vielen verehrten
neuen deutschen und neuesten jüdischdeutschen
lyrischen Brüder sicher furchtbar rühmen –
aber du bist mir zu lieb dazu.
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