Sineds Abendlied

[10] O fahre wohl in deinem milden Westen,

Erleuchterinn der Welt!

Es trinkt den letzten Segen deiner Strahlen

Ein weiter Wolkenkreis,

Und feiert deinen Abzug

In rothem Widerscheine,

Der Berg und Wald erfreut.


Es feiert deinen Abzug holdes Säuseln

Der kühlen Abendluft.

Ihn feiert farbenwechselnd auf den Fluren

Der helle Blumenschweiß.1

Ihn feiern in den Wipfeln

Der Federsänger Kehlen.

Ihn feiert mein Geschlecht.


Auch ich, ich feire, lange die Gefährtinn

Der Lieder von der Wand,

Und kränze mich, und setze mich in's Helle

Der Abendgegend hin.[11]

Hier soll mein Dank erklingen,

Indeß der Schatten Bote2

Auf meine Scheitel blinkt.


Ein Tag von meinen Tagen ist hinüber

Zu seiner Brüder Zahl,

Die nimmer kommen, rief auch selbst Allvater

Sie wiederum zurück'.

Er spricht zu seinen Brüdern:

Der Barde war zufrieden

Mit euch, und ist's mit mir.


Ja, Vater! der du deinen Erdekindern

Gezählte Tage gibst,

Dein Sänger ist zufrieden mit dem Tage,

Der nun in Westen scheid't.

Zwar eine trübe Stunde –

Doch nein, er wird nicht klagen!

Die Stunde kam von dir.


Er ist zufrieden; aber, Herzenprüfer!

Bist du es auch mit ihm?[12]

Beleidigte sein Denken, Sprechen, Handeln

Dein reines Auge nicht?

Von seinen Mitgeschöpfen

Steht keines auf und zeuget:

Er hat mich heut betrübt?


Du weißt es! Ach, mein Auge weilt am Boden!

Mein Kranz entsinket mir.

Die Saiten wimmern kläglich um Vergeben,

Vergeben fleht mein Mund.

Du siehst in meinem Busen

Den heißen Pfeil der Reue.

Du siehst, und du vergibst!


So sollen meiner Harfe laute Feier,

Und meiner Lippen Preis

Den Sternen und dem Silberhorne schallen,

Das dort in Süden glänzt.

Dir, Geber dieses Tages!

Der itzt in Westen auslosch,

Dir singt dein Barde Dank.


Dank für den Schatten, der von deinem Schilde

Sich über mich ergoß.[13]

Ich wohnte sicher. Jedes feindliche Beginnen

Ging seinen Weg vorbei.

Nun winket mir die Ruhe

Nach langer Tagesarbeit.

O nimm den Schild nicht weg!


Indeß, daß alles Leben von dem Schlummer

Tief überströmet liegt,

Nur Eule, Frosch und Nachtigall und Grille,

Wie du sie lehrtest, singt,

Indessen soll zum Haupte

Von deines Barden Lager

Dein wacher Bote steh'n.


Er schrecke jedes Unheil weit zurücke,

Das arg im Finstern schleicht,

Und lasse mich das Bild geliebter Todten,

Und durch ein ahnend Grau

Den Lohn der wahren Tugend,

Und deine Wonnefluren

In frommen Träumen seh'n.


Auch um das Lager, wo mit meiner Fürstinn

Das Heil der Völker ruht,[14]

Allvater! pflanze sich in wachen Kreisen

Dein flammend Botenheer!

Auch um das Lager, welches

Den Heldengeist von Joseph

Erneuert, pflanz' es sich!


Die Laster, die in ihren Höhlen lauschen,

Bis sich die Nacht verdickt,

Und dann auf sichre Menschen fallen, wähnend,

Daß sie dein Aug nicht sieht,

Die lehre, daß kein Dunkel

Vor deinem Blicke decke,

Die strahle du zurück!


So laß' ich mich vor dir dem Schlummer über.

Erwach' ich nimmer hier,

Dann wecke dort den Geist von dir geschaffen,

Wo keine Nacht mehr schwärzt.

Doch soll die Morgenlerche

Mein Ohr noch einmal hören,

Dann lob' ich dich mit ihr.

Fußnoten

1 Der Thau.


2 Der Abendstern.


Quelle:
Michael Denis: Auserlesene Gedichte, Passau 1824, S. 10-15.
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