[390] Fagins letzte Nacht.
Kopf an Kopf stand die Menge im Gerichtssaal. Kein Auge, das nicht auf Fagin gerichtet gewesen wäre. Der Jude stützte sich auf das Geländer. Die andre Hand hielt er ans Ohr und streckte den Kopf weit vor, damit ihm kein Wort des Richters entginge. Bisweilen blickte er scharf nach den Geschworenen hinüber, dann wieder angstvoll nach seinem Verteidiger. Dabei regte er weder Hand, noch Fuß, und Angst malte sich in seinem Gesicht. Die Geschworenen hatten sich zurückgezogen zur Beratung. Als sie wieder zurückkehrten, gingen sie dicht an ihm vorüber.[390] Ihre Gesichter waren wie aus Stein gemeißelt. Tiefe Stille herrschte im Saal, kein Knistern, kein Rascheln, kein Hauch. – Dann wurde das Urteil gefällt: schuldig.
Als das erregte Murmeln der Zuhörer verstummte, wurde Fagin gefragt, ob er noch etwas vorzubringen habe. Er hatte seine lauschende Haltung wieder eingenommen und sah gespannt auf den Richter, der ihm die Frage stellte. Sie mußte ihm zweimal wiederholt werden, ehe er sie zu hören schien. Dann stammelte er mit schwerer Zunge: er sei ein alter Mann – ein alter Mann – ein alter Mann. Und seine Stimme sank zu einem Flüstern herab. Dann saß er wieder regungslos da und schwieg.
Der Richter setzte sich seine schwarze Kappe auf. Eine Frau auf der Galerie schrie plötzlich auf, erschreckt über die unheimlich feierliche Handlung. Fagin blickte hinauf wie jemand, der durch eine Unterbrechung gestört wird, und lauschte noch gespannter. Die Rede des Richters wurde immer feierlicher und eindrucksvoller, und der Urteilsspruch war furchtbar anzuhören. Aber Fagin stand da wie aus Marmor, ohne daß auch nur ein Nerv in ihm gezuckt hätte. Der Unterkiefer hing ihm herab, und er starrte vor sich hin, bis ihm der Schließer die Hand auf den Arm legte und ihm winkte, ihm zu folgen. Geistesabwesend gehorchte er.
Man brachte ihn ins Gefängnis zurück. Er wurde visitiert, ob er nicht etwa Werkzeuge bei sich habe, der Vollziehung des Richterspruches vorzugreifen. Dann steckten sie ihn in eine der Zellen, die für die zum Tode verurteilten Gefangenen bestimmt waren.
Fagin hockte sich auf eine Steinbank gegenüber der Türe und heftete seine blutunterlaufenen Augen auf den Boden. Vergebens suchte er seine Gedanken zu sammeln. Einige abgerissene Stellen aus der Rede des Richters gingen ihm durch den Kopf, und langsam ward er sich klar, daß er zum Tode verurteilt war durch den Strang. Das waren die Schlußworte gewesen. »Verurteilt, zu sterben den Tod durch den Strang.« Es wurde finstrer und finstrer, und er mußte an alle die denken, die von seinen Bekannten auf dem Schafott gestorben waren, manche von ihnen durch seine Schuld.[391] Sie erhoben sich vor ihm und zogen an ihm vorüber so rasch, daß er sie kaum zu zählen vermochte. So manche von ihnen hatte er sterben sehen, hatte sie versöhnt und Witze über sie gemacht, weil sie mit Gebeten auf den Lippen gestorben waren. Er erinnerte sich an das fallende Geräusch, als das Brett unter ihren Füßen weggezogen worden war, und wie sie dann plötzlich verändert ausgesehen hatten. Vorher starke kräftige Männer, im Handumdrehen zu baumelnden, schwankenden Vogelscheuchen geworden.
So mancher von ihnen hatte vielleicht in dieser selben Zelle gesessen und auf demselben Fleck. Es wurde vollkommen dunkel. Warum brachte man kein Licht? Es war ihm, als säße er in einer mit Leichen angefüllten Gruft. Dann sah er die Armsünderkappe, die Schlinge des Galgens, gefesselte Hände, bekannte Gesichter und schrie: Licht, Licht, Licht!
Und als er sich die Knöchel an den Eisentüren und kalten Mauern wund geschlagen und gestoßen hatte, traten zwei Männer ein und steckten eine brennende Kerze in ein Eisengestell an der Wand und brachten eine Matratze, auf der er die Nacht zubringen sollte. Sie sagten, sie würden bei ihm bleiben, denn er dürfe nach dem Gesetz nicht mehr allein gelassen werden.
Dann kam die Nacht. Jeder Schlag von der Turmuhr, der denen draußen vom Leben erzählte und den kommenden Tag kündete, brachte ihm Verzweiflung. Und der Tag kam und verstrich. Und wieder war es eine Nacht unendlich langen gräßlichen Schweigens. Und doch: wie schnell, wie fürchterlich schnell die Zeit dahinraste. Bald fluchte Fagin und heulte, bald raufte er sich stumm das Haar. Ehrwürdige alte Männer der jüdischen Gemeinde waren zu ihm in die Zelle gekommen, um bei ihm zu beten, aber er hatte sie von sich getrieben mit furchtbaren Flüchen. Sie wollten ihm zureden, aber er jagte sie hinaus.
Samstagnacht. Nur eine einzige Nacht noch blieb ihm das Leben geschenkt. Dann brach der Sonntag an.
Die beiden Männer hielten bei ihm Wache.
Fagin hatte sich auf seinem steinernen Sitz niedergekauert, und seine Gedanken schweiften in die Vergangenheit[392] zurück. Er sah den Tag seiner Verhaftung wieder vor sich. Steine, geworfen von der wütenden Menge, verwundeten ihn, man verband ihm den Kopf mit einem leinenen Tuch. Das rote Haar hing ihm über das blutleere Gesicht nieder. Sein Bart war zerrauft und verwirrt. Wieder hörte er die Uhr schlagen: acht, neun, zehn, elf. Am nächsten Morgen früh würde er der einzige Leidtragende sein, begriff er, in seinem eigenen Leichenzug.
Schwarz bemalte Schranken waren bereits quer über die Straße gezogen, um den Andrang der wartenden Menge zu hemmen, da erschienen Mr. Brownlow und Oliver am Gefängnistor und wiesen einen beglaubigten Einlaßschein vor, der sie zu einem Besuch des Gefangenen ermächtigte.
»Soll der junge Herr da mitkommen?« fragte der Schließer. »Es ist kein Anblick für Kinder, Sir!«
»Freilich nicht,« entgegnete Mr. Brownlow. »Aber was ich mit dem Gefangenen zu sprechen habe, geht auch diesen Knaben hier an. Es ist nötig, daß er ihn jetzt sieht.«
Der Mann führte sie durch dunkle Winkel und Gänge nach der Zelle.
»Hier,« sagte er und blieb in einem düstern Eck stehen, wo ein paar Männer in tiefem Schweigen irgendetwas zurichteten; »hier muß er durchkommen. Wenn Sie sich hierherstellen, können Sie die Türe sehen, aus der man ihn herausführen wird.«
Er führte sie in eine mit Steinfließen ausgelegte Küche, wo die Speisen der Gefangenen zubereitet wurden, und deutete auf eine Türe. Es war ein offenes Gitter davor und oben hörte man Männerstimmen zwischen Hammerschlägen und Krachen von Holz: man errichtete das Schafott.
Dann öffnete er mehrere schwere Tore, und nachdem sie einen offenen Hof durchschritten hatten, stiegen sie Steintreppen empor zu einem Gang, der mit schweren Eisentüren flankiert war. Der Schließer klopfte mit dem Schlüsselbund an eine dieser Türen. Die beiden Wächter öffneten.
Fagin saß auf einer Lagerstatt und rückte nervös[393] hin und her. Er glich einem Tier, das sich in einer Falle gefangen hat, und nicht mehr einem Menschen. Sein Geist irrte in der Finsternis seines Gemütes umher. Fagin schien in den beiden Ankömmlingen nichts andres mehr zu sehen als zwei Gestalten in einer langen Reihe von Erinnerungen.
»E feiner Junge das, der Charley. Güt hat ers gemacht,« murmelte er. »Oliverleben, seh' der an da – hihihi – ä Schendlmän is er geworden jetzt – hihi – bringt mer zu Bett den Oliverleben.«
Der Gefangenwärter faßte Oliver an der Hand und flüsterte ihm zu, sich nicht zu fürchten.
»Bringt ihn zu Bett,« murmelte Fagin. »Er is gewesen – soll ich eso leben – an allem die Schuld. Es verlohnt sich schon das Geld, ihm das Handwerk zu legen. Hast de gehört, Bill? Scher dich nix um die Nancy. Hörste? Und schneid so tief, wie de kannst. Bolter, säg' ihm erunter den Schädel.«
»Fagin!« rief der Schließer.
»Hier bin ich,« sagte der Jude und nahm sofort seine lauschende Stellung wieder ein wie vor einigen Tagen im Gerichtshof. »Ich bin e alter Mann – e alter Mann – e alter Mann.«
»Hören Sie, Fagin,« sagte der Schließer und drückte ihn nieder auf seine Bank, von der er sich erheben wollte, »hier ist jemand, der mit Ihnen sprechen will. Fagin, seien Sie doch ein Mann.«
»Ich werd's nix mehr lang sein,« entgegnete der Jude mit einem Gesicht, in dem sich entsetzliche Wut malte. »Schlagt se tot, alle mitanander. Wer kann haben das Recht mich zu töten.«
Dabei fiel sein Blick auf Oliver und Mr. Brownlow und er fragte, sich besinnend, was sie wollten.
»Sie haben einige Papiere,« sagte Mr. Brownlow und trat näher, »die Ihnen ein gewisser Monks gegeben hat.«
»Lüge, alles miteinander,« rief Fagin. »Nicht e einziges Papier hab' ich, nicht eins.«
»Um Gottes Barmherzigkeit willen,« rief Mr. Brownlow feierlich, »sagen Sie jetzt wenigstens die Wahrheit! Sie wissen, Sikes ist tot und Monks hat[394] gestanden; Sie haben keine Hoffnung mehr zu einem weiteren Gewinn. Wo sind die Papiere?«
»Oliver,« flüsterte Fagin, »komm emol her! Ich will dir's ins Ohr sagen.«
»Die Papiere,« flüsterte er, Oliver zu sich heranziehend, »sind in e Leinwandbeintel in e Loch oben im Schornstein in der ersten Stube nach vorne eraus. Hör emol, ich möcht so gern mit dir reden, mei Kind, ich möcht so gern mit dir reden, mei junger Freind.«
»Ja, ja,« sagte Oliver. »Lassen Sie mich nur ein Gebet sprechen. Sprechen Sie ein Gebet mit mir zusammen auf den Knien, und dann wollen wir bis morgen miteinander reden.«
»Draunßen, draunßen,« antwortete Fagin und stierte wie geistesabwesend zur Zellendecke empor. »Sag doch, ich bin eingeschlafen. Dir werden sie's bestimmt glauben. Siehst du, so kannst du mich erausführen, wenn sie mich anfassen.«
»Gott vergebe dem Ärmsten,« rief Oliver und brach in Tränen aus.
»Recht so, recht so,« lobte Fagin. »Siehst du, so eppes bringt uns gleich weinter. Siehst du da zuerst durch die Tür. Und wenn ich auch zitter, wenn wir vorbeikommen am Galgen, mach dir nix draus und fiehr mich nur immer weinter und immer weinter. So so so so – immer fort – immer weinter.«
»Haben Sie sonst noch etwas zu fragen, Sir?« fragte der Schließer.
»Nein, sonst nichts mehr,« antwortete Mr. Brownlow. »Wenn Hoffnung wäre, ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen –«
»Das ist unmöglich,« antwortete der Mann. »Am besten, wir lassen ihn allein.«
Die Zellentüre wurde geöffnet, und die beiden Wärter kamen wieder herein.
»Weinter, nur immer weinter,« rief Fagin. »Still, still, aber doch nich gar ä so langsam, e bissele schneller, e bissele schneller.«
Oliver machte sich los, und Fagin kämpfte einen Augenblick lang verzweifelt mit den beiden Männern, die ihn packten. Dann stieß er einen gellenden Angstschrei[395] nach dem andern aus, daß es Oliver und Mr. Brownlow noch nachtönte, als sie bereits den offenen Hof erreicht hatten.
Der Tag brach bereits an, als sie wieder im Freien standen. Eine große Menschenmenge hatte sich bereits versammelt. In den Fenstern der gegenüberliegenden Häuser lehnten Leute, rauchten, würfelten oder spielten Karten, um sich die Zeit zu vertreiben. Alles wogte hin und her, zankte, scherzte, lärmte. Alles sprach von Leben und Fröhlichkeit, – nur ein einziger dunkler düsterer Gegenstand nicht, der die Mitte des Hofes ausfüllte – ein Gerüst, ein Strick, – der ganze schreckliche Apparat, des Todes.
Buchempfehlung
Ein reicher Mann aus Haßlau hat sein verklausuliertes Testament mit aberwitzigen Auflagen für die Erben versehen. Mindestens eine Träne muss dem Verstorbenen nachgeweint werden, gemeinsame Wohnung soll bezogen werden und so unterschiedliche Berufe wie der des Klavierstimmers, Gärtner und Pfarrers müssen erfolgreich ausgeübt werden, bevor die Erben an den begehrten Nachlass kommen.
386 Seiten, 11.80 Euro
Buchempfehlung
Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für diese preiswerte Leseausgabe elf der schönsten romantischen Erzählungen ausgewählt.
442 Seiten, 16.80 Euro