3.

[184] Ihr habt gepredigt, nun ein Jahr, die neue, treue, freie Zeit;

Wann wird die Mär denn endlich wahr, die neue, treue, freie Zeit?

Der Becker hat und die Geselln geknetet und geheizt genug,

Und immer ist das Brot nicht gar, die neue, treue, freie Zeit.

Ihr saßt schon lange auf dem Ei und gackertet in alle Welt,

Allein noch kroch nicht aus der Aar, die neue, treue, freie Zeit.[184]

Ein stolzes Wort habt Ihr gewagt, nun eilt, daß es zu Ende kommt,

Und macht uns andern offenbar die neue, treue, freie Zeit.

Von ferne klang es – ha, wie schön! – von deutscher Völker Einigkeit,

Man sah sie schon ganz nah und klar, die neue, treue, freie Zeit;

Hoch schwebte sie am Krönungsfest ob Euerer entzückten Stadt

Und trat zum Huldigungsaltar, die neue, treue, freie Zeit,

Sie streifte im Vorüberwehn selbst mit des Fittigs goldnem Saum

Den König und der Nächsten Schar, die neue, treue, freie Zeit;

Doch als nun eine kecke Faust besitzes-froh ergreifen wollt',

Wie die Gelegenheit beim Haar, die neue, treue, freie Zeit,

Da flatterte sie scheu hinweg, und drohend hieß es: Sachte, Freund,

Sonst bringt sie dich noch in Gefahr, die neue, treue, freie Zeit.

Ihr schwieget – und wir – mäuschenstill, und nur zuweilen flistert's noch:

Sie macht sich doch auch gar zu rar, die neue, treue, freie Zeit!

Quelle:
Franz von Dingelstedt: Lieder eines kosmopolitischen Nachtwächters, Tübingen 1978, S. 184-185.
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