I.

[88] Er ging die ganze Bogojawlenskaja-Straße entlang; endlich senkte sich der Weg; die Füße wateten im Schmutz, und auf einmal tat sich ein weiter, nebliger, anscheinend leerer Raum auf: der Fluß. Die Häuser verwandelten sich in Hütten; die Straße verlor sich in einer Menge unordentlicher Gäßchen. Nikolai Wsewolodowitsch ging längere Zeit an Zäunen hin, ohne sich vom Ufer zu entfernen; aber er verfolgte mit Sicherheit seinen Weg und dachte sogar kaum an ihn. Er war mit ganz anderen Gedanken beschäftigt und blickte erstaunt um sich, als er, aus seiner Versonnenheit zu sich kommend, bemerkte, daß er sich beinah auf der Mitte unserer langen, nassen Schiffbrücke befand. Ringsum war kein Mensch zu sehen, so daß es ihm sonderbar erschien, als sich plötzlich, beinahe dicht an seinem Ellbogen, eine höflich-familiäre, übrigens ziemlich angenehme Stimme mit jener süßlichen, skandierenden[88] Aussprache hören ließ, mit der bei uns sehr kultivierte Kleinbürger oder junge lockige Handlungskommis sich ein Air zu geben suchen.

»Erlauben Sie wohl, mein Herr, daß ich Ihren Schirm mitbenutze?«

Und wirklich schlüpfte eine Gestalt unter seinen Schirm oder stellte sich wenigstens so, als ob sie es tun wollte. Der Landstreicher ging neben ihm her und nahm beinah »Fühlung mit dem Ellbogen«, wie die Soldaten sich ausdrücken. Nikolai Wsewolodowitsch verlangsamte seinen Schritt und bog sich ein wenig zur Seite, um den Menschen anzusehen, soweit das in der Dunkelheit möglich war: er war von kleiner Statur und machte den Eindruck eines verlotterten Kleinbürgers; sein Anzug war nicht warm und dabei nachlässig; auf dem strubbligen, krausen Kopfe saß eine nasse Tuchmütze mit halb abgerissenem Schirme. Wie es schien, war er kräftig und mager, mit dunklem Haar und dunkler Hautfarbe; seine Augen waren groß, sicherlich schwarz, mit dem starken Glanze und gelblichen Schimmer, den man oft bei Zigeunern findet; das ließ sich sogar in der Dunkelheit erraten. Er mochte etwa vierzig Jahre alt sein; betrunken war er nicht.

»Du kennst mich?« fragte Nikolai Wsewolodowitsch.

»Herr Stawrogin, Nikolai Wsewolodowitsch; Sie wurden mir auf dem Bahnhofe, als der Zug angekommen war, gezeigt. Außerdem habe ich früher von Ihnen gehört.«

»Durch Peter Stepanowitsch? Du ... du bist der Sträfling Fedka?«

»Getauft bin ich Fjodor1 Fjodorowitsch; bis jetzt habe[89] ich noch meine leibliche Mutter hier in der Gegend wohnen; sie ist eine gottesfürchtige alte Frau, ganz gebückt; sie betet für mich Tag und Nacht, um so ihre alten Tage nicht nutzlos auf dem Ofen zuzubringen.«

»Du bist von der Zwangsarbeit weggelaufen?«

»Ich habe meine Lage verändert. Ich hatte Bücher und Glocken und Kirchengeräte zu Gelde gemacht; dafür war ich zu lebenslänglicher Zwangsarbeit verurteilt worden und hätte also etwas lange warten müssen, bis ich freigekommen wäre.«

»Was tust du denn hier?«

»Ich sehe zu, wie Tag und Nacht abwechseln. Mein Onkel ist letzte Woche auch im hiesigen Gefängnis gestorben, wegen falschen Geldes; da habe ich, um ihm eine Gedächtnisfeier zu veranstalten, ein paar Dutzend Steine nach Hunden geworfen; weiter habe ich bis jetzt noch nichts getan. Außerdem hat mir Peter Stepanowitsch einen Paß, zum Beispiel als Kaufmann, durch ganz Rußland in Aussicht gestellt; da warte ich nun darauf, wann er so freundlich sein wird. ›Denn‹, sagt er, ›mein Papa hat dich damals im Englischen Klub im Kartenspiel verloren, und ich‹, sagt er, ›finde diese Unmenschlichkeit ungerecht.‹ Möchten Sie mir nicht drei Rubel schenken, gnädiger Herr, damit ich mich mit Tee erwärmen kann?«

»Du hast mir also hier aufgepaßt; ich kann so etwas nicht leiden. Wer hat dich dazu angewiesen?«

»Angewiesen hat mich niemand dazu; bloß weil ich Ihre Menschenfreundlichkeit kenne, die ja allen Leuten bekannt ist. Meine Einnahmen sind, wie Sie sich denken können, Luft, wenn mir nicht gelegentlich etwas an den Fingern hängen bleibt. Am Freitag habe ich mich an Kuchen satt[90] gegessen wie Martyn an Seife; aber seitdem habe ich einen Tag nichts gegessen, den andern gehungert und am dritten wieder nichts gegessen. Wasser ist ja im Flusse, soviel man nur will; da habe ich mir eine Karauschenzucht im Bauch angelegt. Also wollen Euer Gnaden nicht mildtätig sein? Ich habe hier gerade in der Nähe eine Gevatterin wohnen; man darf sich bloß bei ihr nicht ohne Geld blicken lassen.«

»Was hat dir denn Peter Stepanowitsch von mir versprochen?«

»Versprochen hat er mir eigentlich nichts; er hat mir nur so gesprächsweise gesagt, ich könnte Euer Gnaden vielleicht einmal nützlich sein, wenn es sich so träfe; aber worin, das hat er nicht deutlich gesagt; denn Peter Stepanowitsch prüft mich in der Geduld und hat zu mir kein Vertrauen.«

»Wieso denn?«

»Peter Stepanowitsch ist ein Astronom und kennt alle Planeten, die Gott geschaffen hat; aber alles weiß er doch auch nicht. Ich rede zu Ihnen ganz aufrichtig, gnädiger Herr, weil ich viel von Ihnen gehört habe. Peter Stepanowitsch ist eine Art Mensch, und Sie, gnädiger Herr, eine andere Art. Wenn der von jemand sagt: ›er ist ein Schuft‹, so sieht er in ihm weiter nichts als einen Schuft. Oder wenn er sagt: ›er ist ein Dummkopf‹, dann hat er von ihm keine andere Vorstellung, als daß er ein Dummkopf ist. Aber ich bin vielleicht am Dienstag oder Mittwoch nur ein Dummkopf und doch am Donnerstag klüger als er. Da weiß er nun jetzt über mich, daß ich große Sehnsucht nach einem Passe habe (denn in Rußland kann man ohne einen solchen Ausweis nichts anfangen), und[91] da denkt er denn, er habe meine Seele gefangen. Ich will Ihnen sagen, gnädiger Herr: Peter Stepanowitsch macht sich das Leben auf der Welt sehr leicht; denn er macht sich von einem Menschen selbst in seinem Kopfe eine bestimmte Vorstellung zurecht und behandelt ihn dann fortwährend auf Grund dieser Vorstellung. Außerdem ist er sehr geizig. Er ist der Meinung, ich würde es nicht wagen, mich mit Übergehung seiner eigenen Person an Sie zu wenden; aber ich will Ihnen, gnädiger Herr, in aller Aufrichtigkeit sagen: dies ist schon die vierte Nacht, daß ich Euer Gnaden auf dieser Brücke erwarte, in Erwägung, daß ich auch ohne ihn mit leisen Schritten meinen eigenen Weg gehen kann. Ich meine, ich verbeuge mich lieber vor einem Stiefel als vor einem Bastschuh.«

»Wer hat dir denn gesagt, daß ich in der Nacht über die Brücke kommen würde?«

»Das habe ich, offen gesagt, auf einem Umwege erfahren, mehr durch die Dummheit des Hauptmanns Lebjadkin, der nichts für sich zu behalten versteht ... Also drei Rubel kommen mir wohl von Euer Gnaden für drei Tage und drei Nächte und für die Langeweile zu. Und daß meine Kleider ganz naß geworden sind, davon will ich nun schon anstandshalber ganz schweigen.«

»Mein Weg geht links und der deinige rechts; die Brücke ist zu Ende. Höre, Fjodor, ich habe es gern, wenn das, was ich sage, ein für allemal verstanden wird: ich werde dir auch nicht eine Kopeke geben; begegne mir in Zukunft weder auf der Brücke noch sonst irgendwo; ich bedarf deiner nicht und werde deiner nie bedürfen; und wenn du nicht gehorchst, so werde ich dich binden und zur Polizei bringen. Marsch!«[92]

»O weh! Na, spendieren Sie wenigstens dafür etwas, daß ich Ihnen Gesellschaft geleistet habe; der Weg ist Ihnen doch amüsanter gewesen.«

»Mach, daß du wegkommst!«

»Aber kennen Sie auch hier den Weg? Hier sind so verzwickte Gassen ... ich könnte Sie führen. Denn diese Stadt, das ist ganz so, wie wenn der Teufel sie in einem Korbe getragen hätte und der entzwei gegangen wäre.«

»Hör mal, ich werde dich binden!« sagte Nikolai Wsewolodowitsch und wandte sich drohend zu ihm hin.

»Vielleicht überlegen Sie es sich doch noch, gnädiger Herr; wozu wollen Sie einen armen Menschen lange hinhalten?«

»Du besitzt offenbar ein großes Selbstvertrauen!«

»Ich setze ein Vertrauen auf Sie, gnädiger Herr, nicht auf mich.«

»Ich habe dir gesagt, daß ich deiner ganz und gar nicht bedarf!«

»Aber ich bedarf Ihrer, gnädiger Herr; das ist die Sache. Nun gut, dann werde ich Sie auf dem Rückwege erwarten.«

»Ich gebe dir mein Ehrenwort darauf: wenn ich dir wieder begegne, binde ich dich.«

»Dann werde ich also einen Leibgurt dazu in Bereitschaft halten. Glück auf den Weg, gnädiger Herr! Sie haben unter Ihrem Schirm einen armen Menschen warm werden lassen; schon dafür werde ich Ihnen lebenslänglich dankbar sein.«

Er blieb zurück. Nikolai Wsewolodowitsch setzte, von Sorgen erfüllt, seinen Weg fort. Dieser vom Himmel geschneite Mensch war felsenfest davon überzeugt, daß er[93] ihn unumgänglich nötig habe, und hatte sich in recht unverschämter Weise beeilt, dies auszusprechen. Überhaupt machten die Leute mit ihm nicht viel Umstände. Aber es konnte auch sein, daß der Landstreicher nicht alles erlogen hatte und ihm wirklich nur aus eigenem Antriebe und absichtlich ohne Peter Stepanowitschs Wissen seine Dienste angeboten hatte; und das wäre das Allermerkwürdigste gewesen.

Fußnoten

1 Davon ist Fedka die Koseform.

Anmerkung des Übersetzers.


Quelle:
Dostojewski, Fjodor: Die Teufel. Leipzig [1920], Band 2, S. 88-94.
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