Am siebenten Sonntage nach Pfingsten

[650] Ev.: Von der Gerechtigkeit der Pharisäer.


Zu derselben Zeit sprach Jesus zu seinen Jüngern: »Wenn eure Gerechtigkeit nicht vollkommener sein wird, als jene der Schriftgelehrten und Pharisäer, so werdet ihr nicht in das Himmelreich eingehen. – Darum wenn du deine Gabe zum Altare bringst, und dich da erinnerst, daß dein Bruder etwas wider dich hat, so laß deine Gabe vor dem Altare, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder, und dann komm und opfre deine Gabe.«


Wo bist du, der noch unversöhnt mit mir?

Gern will ich, freudig, meine Hand dir reichen.

Nicht weiß ich es, was ich verbrach an dir;

Verschwunden alte Zeiten, alte Zeichen.

Zerronnen sind mir Jahre wie ein Traum

Und rückwärts wend' ich die Gedanken kaum

Zu Bildern, die wie Wolkenschatten bleichen.


Aus harter Not und manchem bittern Kampf

Ist mir ein neues Leben aufgegangen.

Kein freudiges; der heiße innre Krampf

Entzündet sich von außen nicht befangen;

Der Blick nach innen bohrend mit Gewalt

Kann tiefer tiefer in den dunkeln Spalt

Der lang verharschten Wunden nun gelangen.


Was mich bewegt, es ist dahin, verweht;

Geschieden längst, die einst zusammentrafen.

Und wie ein Schiff, das überm Meere steht,

Vergessend ganz den einst verlaßnen Hafen,

Laß ich das Senkblei zitternd auf den Grund

Zu forschen, wo die Seele krank und wund,

Wo, wehe, die verborgnen Klippen schlafen.


Ach, kann ich denn vollbrachte Dinge so

Gleich dem verbrauchten Mantel von mir streifen?

Wird einer selbst nur seiner Trauer froh,

Wo tausend kleine Fasern nach ihm greifen[650]

Der Wucherpflanze, so er ausgesät,

Wenn überall des Fluches Ernte steht,

Allüberall die irren Seufzer schweifen?


O rüttle dich, schlag deine Augen auf!

Noch einmal mußt du sie nach außen wenden,

Mußt sehn den Quell als wilden Stromes Lauf,

Den aufgegraben du mit deinen Händen,

Und wo er ward gedämmt durch Gottes Huld,

Da schlag an deine Brust in deiner Schuld

Und wähne nicht du könntest was vollenden.


Ja wend' ich meine Blicke nur zurück,

Dann weiß ich, wo ich muß um Gnade flehen,

Wo schuldig ich das eigne Lebensglück

Zu tauschen gegen fremder Seele Wehen;

Dann weiß ich wohl, wer mir noch unversöhnt

Vielleicht die dargebotne Rechte höhnt,

Mich nach Verdienst läßt ungetröstet gehen.


Wo ich getäuscht in Leichtsinn, Übermut,

Dort mag man mir vielleicht zuerst vergeben;

Doch wo vergiftet ward ein reines Blut

Ein fremdem Beispiel hingegebnes Leben:

Da liegt der Stein, den meine sünd'ge Hand

In Schwung zu setzen, ach, nur zu gewandt,

Doch viel zu schwach, vom Grunde jetzt zu heben.


Barmherziger! o laß der Sünde Lauf

Nicht so gewaltig mehr zum Strudel treiben!

Sieh! meine Hände heb' ich angstvoll auf,

Nicht ein so schrecklich Denkmal laß mir bleiben!

Nicht später Reue schäm' ich mich fürwahr,

So send' auch diesen deine Leuchte klar,

Daß schaudernd gen den Abgrund sie sich sträuben!


Mein Gott, nicht um Verzeihung fleh ich ja,

Daß unverdiente Liebe ich mir stehle;[651]

Zu ihnen tritt, nur ihnen Herr sei nah!

Welch andre Pein auch hier und dort mich quäle,

Du Gnädiger, nur dieses eine nicht,

Daß ich vor deinem ewigen Gericht

Durch mich verloren sehn muß eine Seele!


Quelle:
Annette von Droste-Hülshoff: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 1, München 1973, S. 650-652.
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