Versuch von der menschlichen Vernunft und ihrem Gebrauche

Om, wie lange kämpft, im ungerechten Kriege,

Der Mensch mit der Vernunft, und freut sich böser Siege?

Zum Tode, rief Athen, wer bessre Götter lehrt,

Und unsrer Väter Brauch, und den Altar zerstört!

Und schau, das reine Bild der Weisheit und der Liebe

Wird zu der Schmach verdammt, und stirbt den Tod der Diebe.

Dem Weisen, den das Loos der Missethäter trifft,

Reicht man kaum Bettelbrodt1, und kaum genugsam Gift2.[37]

Ein lehrender Esop trug, seiner Zeit zur Schande,

Des reichen Pöbels Joch, und Epiktet die Bande.

Dies war der Weisen Glück von allen Zeiten her;

Und unsre Zeit erstaunt, und wird nicht billiger.

Der Hof zieht Tänzer an, und nähret Müßiggänger,

Jägt einen Weisen fort, und mästet zwanzig Sänger.

Die Dürftigkeit verlöscht dem Weisen, da er wacht,

Die Lampe, die den Kreis der Erden heller macht,

Umsonst rieth sein Verstand mehr, als Orakel rathen,

Gab im Lycurg Gesetz, und focht in Cäsars Thaten:

Regierte im Hugen der Sterne wandelnd Heer,

Fand im Colon die Bahn durchs ungepflügte Meer;

Umsonst ins Herz der Welt stieg er durch Felsenwunden,

Und hat, selbst arm zu seyn, für Narren Gold gefunden.

Beglückt, wenn man den Geist, der seine Flügel regt,

Noch in die Schulen stößt, und dort an Ketten legt.

Dort muß er in das Gleiß der alten Lehrer treten,

Und selbst nicht vor sich sehn, getreuer nachzubeten:[38]

Muß wider die Vernunft aus fremden Ländern schreyn,

Cartesisch in Paris, in Halle wolfisch seyn.

Die Mode und der Wahn ertheilt der Welt Befehle,

Die eine für den Leib, der andre für die Seele.


Der Heilige vermischt den Weisen mit den Spöttern,

Denkt seiner nur im Grimm, und spricht zu ihm aus Wettern.

Verdank es der Geburt am Elbstrom, oder Rhein;

Am Euphrat würd er selbst ein Feind der Christen seyn,

Vernunft, schreyt er, ist blind; und darf sich nichts erkühnen,

Der Glauben geht gewiß; er herrsche, sie soll dienen!

Setz ihn in Asien, erzogen im Koran,

Und sag, was spräch er wohl, spräch er als Muselmann?

Mit eben der Vernunft, die ihn den wahren Lehren

Blind unterworfen hat, könnt er dem Irrthum schwören.


Hör, was der Redner sagt, der die Gerichte stimmt,

Und oft, statt der Vernunft, sein Geld zu Hülfe nimmt:[39]

Hier schweige mit Vernunft! was nützt ein leer Geschwätze?

So will der Landesherr, so wollen die Gesetze.

Und wer gab dis Gesetz? Vielleicht ein Eigensinn,

Ein Narr, ein Kammerdiener, und eine Buhlerin.

Der Schulmann ohne Geist, von Hochmuth aufgeblasen,

Kennt von der ersten Welt die Kleidung und die Phrasen.

Vergnügt, wenn er mit Schweiß, der seine Stirn benetzt,

Virgilens Troja löscht, und ihn in Wasser setzt:

Vernunft ist nicht sein Theil: was brauchts der Kunst zu denken,

Um in Gelehrsamkeit zwölf Dichter zu ertränken?

Ihm, der allein den Geist der Prisciane faßt,

Wird Lock ein Schwätzer seyn, und Newton ein Phantast.

Und doch hat die Vernunft, die alle drey beleidigt,

Das Christenthum geschützt, und den Altar vertheidigt;

Sie stellte Recht und Heil im Dracon wieder her,

Vertrat im Tullius, und sang in dem Homer.
[40]

Doch laß uns von Vernunft nicht bis zum Ekel streiten;

Und sprich: es sey ihr Theil, den Menschen falsch zu leiten.

Dann aber wollt ich eh zur Erde niedersehn,3

Glatt, oder auch im Pelz gebückt auf Vieren gehn,

Und mit der Sicherheit mich nimmer zu verlieren,

Des Pfaus, ja, wenn ich soll, den Schweif des Esels führen,

Als mit dem Titel, Mensch, nur in der Bildung schön,

Und ohne Pelz und Schweif, auf Zweyen unrecht gehn.

Gesichert geht das Vieh, von dem Instinkt getrieben,

Mit der Natur die Bahn, die sie ihm vorgeschrieben.

Kein Irrweg, kein Betrug verschlägt es von der Ruh,

Gott herrscht in dem Instinkt, und führt unfehlbar zu.

Du aber wirst umsonst durch zwanzig Augen sehen,

Die Fackel in der Hand, und wirst doch irre gehen;

Folg, oder geh allein, in beyden bist du blind;

Je größere Vernunft, je tiefer Labyrinth.
[41]

Der Satz verscherzt dein Recht, den Erdkreis zu regieren,

Und setzt dich in Gefahr, den Zepter zu verlieren:

Ein Vorzug, den kein Baur, so wenig er gedacht,

Kein ungelehrtes Volk, sich jemals streitig macht.

Er deckt den Schauplatz auf, wo Hitz und Fieber rasten,

Und zeigt dir eine Welt voll Träumer, und Phantasten,

Wo Irrthum, mit der Tracht der Wahrheit überdeckt,

Um unsre Häupter schwärmt, belustigt, oder schreckt.

So schwärmt, wie4 Naso singt, in Morpheus stiller Grotte,

Furcht, Hoffnung, Schrecken, Lust im Träumen bey dem Gotte;

An Zahl den Blättern gleich, den Aehren auf der Flur,

Und trägt veränderlich Gestalten der Natur.


Laß den, der Träume liebt, dies Zauberwerk ergetzen;

Du, der du Wahrheit suchst, willst die Vernunft entsetzen?[42]

Nein, laß ihr noch ihr Recht – »und was für Rechte dann?

Wer sagt mir, ob Vernunft unfehlbar führen kann?«

Ohnfehlbar allerdings. Doch ohn Affekt erwogen,

Im Denken recht geübt, vom Wahne abgezogen;

Als eine reine Kraft, die bloß aus Gründen denkt,

Und nur auf ihrem Kreis von Wahrheit eingeschränkt.

Sonst führ ich dich zurück, woraus ich dich gerissen,

Und stürze dich noch eins in gleiche Finsternissen.

Ist oft ihr Urtheil falsch, und zweifelhaft ihr Licht,

So sprich: wann sagt sie wahr? wo irrt sie, und wo nicht?

Auf welche Regeln, Freund, soll ich mein Urtheil gründen?

Ja, sage mir vielmehr, wo soll ich Regeln finden?

Bey jeder frag ich dich: ist sie gewiß? warum?

Denn das Orakel schweigt, und längst ist Delphos stumm!

Dann sitz ich blind und taub in einem Gaukelspiele,

Ein schaaler5 Pyrrhonist, und weiß nicht, ob ich fühle.
[43]

Ein einziges Gefühl, Empfindung, oder Sinn,

Von Mexico nach Rom, von Rom bis nach6 Pechin,

Führt alle Sterbliche, in einer gleichen Klarheit,

Und öffnet zur Vernunft fünf Wege für die Wahrheit.

Was Lappland weiß gesehn, sieht auch Aegypten weiß;

Die Flamme ist am Nil, und an der Wolge heiß:

Was ändern Zeit, und Ort an dem Gefühl der Hitze,

Ob dieser nah am Pol, der am Aequator schwitze?

Der Morgenrose Duft, der Weihrauch, der beseelt,

Würkt lieblich, da der Dampf aus Todtengräbern quält:

Und von dem Abend an, bis an die Morgenröthe,

Merkt jedes Ohr den Schall der Trommel vor der Flöte.

Dies ewige Gefühl hat Gott uns eingeprägt,

Und in ihm selbst den Grund der Wahrheit vest gelegt.

Erst stütze die Vernunft auf so gewissen Gründen,

Vergleiche, leite her, so wirst du weiter finden.

So grub sie Wahrheit aus, die in der Seele schlief,

Und folgte nach und nach, wohin ihr Faden lief.

So führte sie zuletzt, auf ihrer Dinge Leiter,

Zum Schöpfer, die Natur, ihr glücklicher Begleiter.[44]

So baut sie Schluß auf Schluß, und setzt, zu einer Bahn,

Die Staffel zum Saturn ins Herz der Erden an,

Worauf die Wahrheiten, wie Engel, niedersteigen,

Und ihr, was Moses sah, im fernen Schatten zeigen.


Die göttliche Vernunft, die alles überdenkt,

Ist gleich an Deutlichkeit, und Umfang unumschränkt:

Mit einem gleichen Strahl durchdringt sie Höhn und Tiefen,

Unendlich reich an Licht, unendlich an Begriffen.

Schließ sie in einen Kreis bestimmter Wahrheit ein,

Und schwäch ihr göttlich Licht, so wird sie endlich seyn.

So wohnt sie Geistern bey, aus Nothdurft eingeschränket,

Und irrt nicht, wenn sie nur in ihrer Sphäre denket.

In diesen Inbegriff setz Unbetrüglichkeit;

In ihm ist alles Licht, und draussen Dunkelheit.


Woher entsteht der Zank unzähliger Parteyen,

Die voller Widerspruch, doch alle Wahrheit schreyen?

Ein jeder reisset ein, und stellet wieder her,

Und wird für sein Gebäu mit Lust ein Märtyrer.7[45]

Der maaßt sich an, mit Gott sein Werk zu überlegen,

Und dieser giebt sich Müh den Himmel zu bewegen.

Gieb jedem8 Archimed den Punkt, der ihm gefällt,

Und sey denn überzeugt, ein jeder dreht die Welt.

Spricht dieser: wandele! so spricht der andre: stehe!

Und jeder stirbt darauf, daß seine richtig gehe.

Der glaubt, durch keinen Gott die Welt hervorgebracht,

Und jener braucht ihn kaum; er hat sie selbst gemacht.

Der lehrt die Anziehung zum Vortheil seiner Schwere,

Und der nimmt Wirbel an, und ficht für seine Lehre.

Woher entsteht der Streit? – weil mancher Narr vergißt,

Daß er die Creatur, und Gott der Schöpfer ist.

Weil er den Kreis verläßt, worinn sein Stand ihn schränket,

Und draussen lieber irrt, als drinnen richtig denket.

Er kettet Schluß an Schluß, und baut Systemen drauf,

Und hängt sie in der Luft, wie Gott die Welten, auf.


Auf Muthmaßung gestützt, willst du Gewißheit finden?

»Allein ich schliesse recht?« woraus? aus vesten Gründen?[46]

Sonst sey so klug du willst, die Folgen auszuziehn,

Biet alle Lehrer auf, vom Lock bis zum Corvin;

Und reichte vom Saturn die Kette bis zur Erden,

So wird durch keinen Schluß der Irrthum Wahrheit werden!


Schau, wie mit stolzem Haupt, das Sturm und Meer nicht beugt,

Venedig voller Trotz aus seinem Schlamme steigt;

Und sage: sollt es wohl, gebaut auf Sumpf, und Wellen,

Ein tausendjährig Haupt dem Sturm entgegen stellen:

Wenn nicht die weise Kunst die schwache Last geschützt,

Und, was der Schlamm nicht trägt, mit Pfeilern unterstützt?

Da aber, wo Natur und Kunst den Grund versagen,

Wie kann ein grundlos Meer ein neu Venedig tragen?


Laß, auf den Grund zu sehn, die erste Regel seyn,

Du baust selbst ein System, du reissest andre ein.

Sie bringt von unten auf Gewißheit in die Lehren,

Und führt den graden Weg, den Irrthum zu zerstören.
[47]

Sieh! wie ein Federheld, bald aufrecht, bald gekrümmt,

Um seinen Gegner tanzt, und tausend Lager nimmt.

Er bückt, er dehnet sich, und läßt die Klinge blitzen,

Mit einem Fechterstreich ihm leicht die Hand zu ritzen.

Vielleicht, mit mindrer Kraft, als er im Schweiß verwandt,

Reißt ihm ein Stärkerer die Waffen aus der Hand.

So quält sich ein Sophist von thörigten Systemen,

Mit lächerlicher Wuth, den kleinsten Satz zu nehmen.

Was nur für einen Streich die Zankkunst ausgedacht,

Was der Betrug ersann, wird völlig durchgemacht.

Wie endigt sich der Kampf? – dem ward die Hand zerrissen:

»Und dieser?« – wird vielleicht ein Wort verändern müssen.

O Gaukler, und Sophist, ihr fechtet nur zum Scherz!

Der Ernst stürmt auf den Grund, und stößt sein Schwert ins Herz.


Klagt ihr, o Sterbliche, nach müßigen Gezänken,

Das Leben sey zu kurz, das Wichtigste zu denken?

Spart eure Zeit, und flieht der Schule Zänkereyn;

Wie Simson, faßt den Grund, und reißt die Seulen ein!

Die Last, die Stürme kaum in hundert Jahren biegen,

Wird, wenn die Basis sinkt, zugleich darnieder liegen.[48]

Der Lehrer des Korans, mit viel Gelehrsamkeit,

Durch langen Schweiß erkauft, und Kosten vieler Zeit,

Uebt über jeden Satz die schwindlichten Gedanken,

Worüber Alis Zunft, und Omars Schüler zanken,

Wie viel vergebne Müh hat er umsonst verwandt,

Eh er ihr Lehrgebäu von Satz zu Satz verstand!

Doch ohne die Geduld so thöricht zu ermüden,

Hätt er in kurzer Zeit den ganzen Streit entschieden;

Es zeigt der erste Blick auf Mahomets Gebäu,

Daß er ein Schwärmer war, und dies voll Possen sey.


So such in keinem Streit dich unnütz abzumatten;

Dring gleich auf deinen Feind, und fechte nicht mit Schatten.

Brauch deine Augen selbst; nimm nichts auf Glauben an;

Den Dienst versage nie, den Beyfall jedermann.

Denk alles, was du glaubst, noch einmal ernsthaft über;

Und eh du weiter eilst, halt noch, und zweifle lieber.

Gieb keinem Vorurtheil des Alterthumes Platz;

Der allerälteste ist oft der schwächste Satz,

Im Irrthum erst erzeugt, durch Ansehn angepriesen,

Geheiligt durch die Zeit, und durch die Zeit erwiesen.[49]

Den Aberglauben flieh, der Einbildung Betrug;

Daß ganz ein Volk so glaubt, sey dir nicht Grund genug.

Am ersten zweifle da, wo's schrecklich ist zu zweifeln;

Was nicht mit Gründen kann, das schützet sich mit Teufeln.

Folg keiner Secte nach, so alt ihr Ursprung ist,

Er mag vom Zerduscht seyn, er mag vom Trismegist.

Die Meinung, und die Mod'9 ergreift, wie eine Seuche,

Ein Volk von Sohn auf Sohn, und läuft durch ganze Reiche.

Das, was die neue trägt, verlacht die alte Welt,

Europa tadelt oft, was Asien gefällt.

Ein jedes eignes Volk hält seine Regeln besser,

Und Gottesdienst,10 und Tracht scheint der Vernunft gemäßer.


Wie kommts, daß Pechins Schönen nicht ohne Straucheln gehn?

Weil die Chineser glauben, ein kleiner Fuß sey schön.

In Fesseln bildet man des Mädgens zarte Füße,

Und sorgt nicht, daß sie einst auf Vieren kriechen müsse.[50]

Die Höckernation, die Gulliver ersann,

Sieht grade Europäer für Mißgeburten an.

So äfft ein alter Wahn mit Sätzen und Gestalten,

Die wir für die Natur und für die Wahrheit halten.

Der Lehrer nahm es an, gestützet zwar auf nichts;

Der Schüler fand Beweis; dies starke Wort: er sprichts.

Der Vater ließ dem Sohn ein erbliches Vermögen,

Den Glauben, und sein Geld, den Irrthum, und den Segen;

Und dieser, dem Geheiß des Vaters unterthan,

Empfing, mit gleicher Lust, die Güter und den Wahn.

So ward und wuchs der Wahn, so wie durch neu Gewässer

Ein Strom im Laufe schwillt, und wird im Gehen größer.

Daher zieht, jede Welt, Barbaren Africa,

Europa Christen auf, und Türken Asia.

Und jeder Lehrer sät der eignen Meinung Samen,

Und Secten stehen auf, getauft mit seinem Namen:[51]

Der stoisch, der platonisch, der ein Epicurär,

Der scotisch, der thomistisch – und hundert andre mehr.

Doch, wer Vernunft gebraucht, erbt nicht vom Demokriten,

Und von dem Plato nicht, und nicht vom Stagiriten,

Noch Wolf, noch vom Cartes; nimmt selbst nicht Wahrheit an,

Eh er sie selbst geprüft; er ist sein eigner Mann,

Der allerorten her, wie Bienen Honig, sammlet,

Mit allen richtig spricht, doch nie mit andern stammlet;

Sein eigenes Orakel;11 der nicht auf Glauben irrt,

Und, wenn er selbst verstummet, kein Delphos fragen wird;

Der seine Wahrheit nützt, sich nicht vom Ziel entfernet,

Und alles zum Gebrauch, nichts bloß aus Neugier, lernet.


Arbeite dich im Schwall der Meinungen empor;

Ergreif den nächsten Fels, und steig am Strand empor,

Eh dich der volle Strom, die Beute seiner Wogen,

Ins uferlose Meer mit sich hinabgezogen:[52]

Umsonst irrt da dein Aug, umsonst suchst du den Strand,

Und schwimmst mit aller Macht, und siehst nicht wieder Land.

Versuche bald, und oft die Kräfte deiner Flügel;

Streich erst am Boden her, dann schwinge dich auf Hügel:

Ein jeder Flug erweckt, und stärket die Begier,

Zuletzt siehst du mit Lust Gebirge unter dir,

Die träge Pilgrimme, noch ungeübt im Wandern,

Mit Schrecken vor sich sehn, und eines auf dem andern.

Wenn nicht der Jüngling schon Vernunft im steten Fleiß

Zum Ueberlegen übt, wie nützt sie wohl der Greis?

Der, so die Fertigkeit im Denken zu erhalten,12

Ins hohe Alter spart, hängt sich, gleich einem Alten,

Dem schon der Bart gereift, dem Gängelwagen an,

Und lernet dann erst gehn, wenn gar kein Fuß mehr kann.


Dies ist die Klugheit dann, die dich zu Höhen leitet,

Wohin der halbe Mensch, der Pöpel, niemals schreitet.[53]

So ungleich gab zwar Gott Vernunft dem Menschen nie,

Daß der, wie Engel denkt, der etwas mehr als Vieh:

Wohin Aristotels13 durch Geist geführet traten,

Dahin führt auch der Fleiß die schwächern Xenokraten.

Flieh dann die Uebung nicht, zu groß auf dein Genie,

Und denke nicht so stolz, dein Geist ersetze sie.

Der Kranke, der getrost die Mittel von sich setzet,

Und weil er Stärke merkt, sie für entbehrlich schätzet,

Giebt ein gewisses Zeichen, je weniger er klagt,

Daß schon der Tod im Fieber an seinem Herzen nagt;

Indeß verzehret es die Säfte seiner Glieder,

Und frißt ihn langsam auf, und wirft ihn endlich nieder.

So langsam, und so still verzehret mit der Zeit,

Die Hecktik unsrer Seelen Gedankenlosigkeit.


Wie kommt es, daß ein Baur, ein Schiffer, ein Soldat,

Bey harter Lebensart die größte Stärke hat;

Da ein Verzärtelter, beym Ambrosin der Götter,

Kaum seine Glieder schleppt, und lebt auf Gunst der Wetter?[54]

Der ward schon als ein Kind bewegt, bald an dem Pflug,

Bald, wenn er mit dem Ruder die Wasserfläche schlug;

Der Magen ward gesund, und goß nahrhafte Säfte

In seine Nerven aus, und gab den Gliedern Kräfte:

Indem der Weichliche, aus Furcht der Mutter krank,

In träger Musse schlief, und wenig aß und trank.

Natur, zu einem Zweck, gab einerley Befehle;

Die Arbeit stärkt den Leib, und stärket auch die Seele.

Mit eines Newtons Hirn, mit eben dem Verstand,

Der die Natur enthüllt, und ihr Gesetz erfand,

Wirst du doch, ungeübt, dich bey der Rechnung quälen,

Den Regeln nachzugehn, die Schüler nicht verfehlen.


Mit dieser Kunst zu denken, geh, vom Geräusch verschont,

In jene heilge Stille, wo gern die Weisheit wohnt.

Gefesselt mit der Welt, hält auf gewissen Höhen

Die Kette deinen Geist, und zwingt ihn, da zu stehen.

Zwar lehren, daß man ganz vom Körperlichen frey,

Und in Verstand und Geist, wie aufgelöset, sey,[55]

Ist metaphysisches, unsinniges Geschwätze:

Doch, daß man Vorurtheil, und Mod' herunter setze,

Der Meinung Sieger sey, gereiniget vom Wahn,

Ist, was nicht jeder kann, doch mancher schon gethan.

Wer so den Geist befreyt, schaut bald aus solchen Höhen;

Wie Scipio14 die Welt in seinem Traum gesehen:

Wie ward vom Himmel ab der tiefe Erdball klein!

Kaum fand er Roms Gebiet, den Fleck von Koht darein.


Fußnoten

1 Sokrates, der Verbesserer seines Vaterlandes, wurde von Allmosen erhalten. Diogenes Laert. in dem Leben des Sokrat. führet den Aristoxenus zum Zeugen an, daß er in einer Büchse Geld gesammlet, wovon er gelebt habe: Posita igitur arcula collegisse pecuniam, quae daretur; consumta autem ea rursus posuisse.


2 Indem sich Sokrates mit seinen Freunden von der Unsterblichkeit der Seele beredete, sagt Kriton, daß ihn der Gefängnißwärter einige mahle erinnert habe, er mögte den Sokrates nicht zu viel reden lassen; weil er sich erhitzen mögte, welches die Wirkung des Giftes verhindere. Dacier setzet in einer Anmerkung hinzu, daß der Gefängnißwärter dieses aus Eigennutz erinnert habe: denn er mußte den Gift anschaffen, und die Prise kostete 12 Drachmen; er befürchtete, er müsse solcher Prisen 2 bis 3 anschaffen. S. die Oeuvres de Platon traduites en François avec des remarques, im 2ten Bande.


3 Dieser Gedanke gehöret dem Bollingbroke, aus dessen Abhandlung of the true Use of Retirement and study, die Idee des ganzen Gedichtes genommen ist. Seine Worte sind: Would not your Lordship chuse to walk upon four legs, to wear a long toil, and to be called a beast, with the adventage of being determined by irresistible and unerring instinct to those thruths that are necessary to your well-being; rather than to walk on two legs, to wear no toil, and to be honored with the title of man, at the expence of deviating from them perpetually?


4 S. die Verwandlungen im XI. B.


Hunc circa passim varias imitantia formas,

Somnia vana iacent totidem, quot messis aristas,

Sylua gerit frondes, eiectas littus arernas.


5 Pyrrho von Elea gerieth auf die Schriften des Demokrit, und gewann einen Trieb zur Weltweisheit, und hörte hernach einige andere Lehrer. Er soll gesagt haben, er wisse nichts, als dieses, daß er gar nichts wisse. In seiner Gleichgültigkeit bey einem Sturm zur See, als er seinen Gefährten erschrocken, und ein Schwein im Schiffe geruhig fressen sah, pries er dem Weisen dieses Schwein, zum Exempel der Gelassenheit, an. Ein ganz besonders Exempel!


6 Pechin, oder Peking.


7 Chaque opinion est assez forte pour se faire épouser au prix de la vie, sagt Montagne.


8 Es ist bekannt, daß Archimed einen Punkt ausser der Erde foderte, sie zu bewegen. Die Hypothesen der neuen Schöpfer sind vielleicht noch ein weit unbescheidener Postulat, als jenes.


9 Die Gedanken des Virgils, von dem Gerüchte, schicken sich sehr bequem auf die Vorurtheile, den Wahn, die Meinungen und Moden.


Fama malum, quo non aliud velocius vllum,

Mobilitate viget, viresque acquirit eundo.


10 Je ne suis pas surpris que le Négres peignent le Diable d'une blancheur eblouissante, et leurs dieus noirs comme du Charbon.

Lett. pers.


11 Every man's reason is every man's oracle.

Bollingbr.


12 To set about acquiring the habits of meditation and study late in life, is like getting into a go-cart with a grey beard, and learning to walk when we have lost the use of our legs. Bollingbroke.


13 Aristoteles war ein fähiger Kopf; Xenocrates hin gegen langsam, Plato, den sie beyde zugleich hörten, sagte deswegen, jener habe einen Zügel, und dieser einen Sporn nöthig.


14 S. den Traum des Scipio beym Cicero.


Quelle:
Johann Jakob Dusch: Drey Gedichte, Altona und Leipzig 1756, S. 34-56.
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