X. Brief

An Amalie

[23] Vermuthlich mußt Du, meine Liebe, deinen lezten Brief, den ich Dir heute auch beantworten werde, abgeschikt haben, ehe Du meine leztre Antwort erhieltest. Ich sagte Dir rund heraus, wie es Dir gehen könnte, wenn Du Dich einmal im Ernste vergaftest. Freilich kannst Du mir entgegenschreien: Freundin! nicht Allen muß es so gehen! Laß sehen, armes Kind, was Du allenfalls einzuwenden hast. O, schon höre ich Dich widersprechen! Wenn ich liebe, so werde ich aus Simpathie und nicht aus Eigensinn lieben. Gut, meine Beßte, muß ich Dir sagen, können wir uns nicht täuschen? Glaubt nicht oft ein enthusiastischer Kopf, daß er da oder dort Simpathie erhascht habe? Laß ihn nur wieder kälter werden, diesen Kopf; laß ihn seinen Abgott, den er sich nach seiner ganzen glühenden Hizze so schuf, wie es ihm gefiel, noch einmal, laß ihn denselben mit kaltem Blute und kritischer Menschenkenntniß untersuchen, dann gieb Acht, ob es noch Simpathie ist! Glaubst du denn, daß die Menschen so leicht und so oft simpathisiren? Ist nicht der größte Menschentheil so sehr verdorben, daß man unter einer großen Zahl Geschöpfe wenige wahre Menschen findet?[23] und wird nicht ein gutes, gefühlvolles Herz zehnmal betrogen, ehe es das Glük hat, eine andere gute Seele zu finden? Es giebt gleichdenkende Menschen, aber selten oder nie findet man sie. Sey mistrauisch, liebes Mädchen, ich bitte Dich, wenn Du dein Herz keinen Mishandlungen aussezzen willst. Ich mag Dir nun keine Silbe mehr weiter zureden, Du möchtest sonst Ekkel bekommen, und das mag ich nicht; also zu deiner Reisebeschreibung: Du bist ein näkkisches Ding! Wenn Du deine Avanturen alle so komisch behandeln könntest, dann würde ich weniger Sorge haben; aber nicht allemal wird deine Kritik über deine Neigung siegen; so lang dein Herz noch gesund bleibt, und deine Einbildung nicht verstimmt wird, so hast Du nichts zu fürchten; wenn Dich aber einmal wizzige, galante schöne Herrchens, statt solchen halbreifen Jungen, verfolgen werden, wie wird es dann aussehen? Es giebt Männer, die unser Geschlecht so gut kennen, und die uns tändelnd zur Liebe zu reizen wißen. Du bist offenherzig und empfindsam, Du hast Menschen gesehen aber sie nicht studiert, und was braucht es mehr, um deine Leichtglaubigkeit zu täuschen? Der Himmel bewahre Dich vor solchen Ruhestörern! Sey aufrichtig gegen mich, und Du wirst finden, daß Dich niemand mehr liebt als deine


Fanny.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 23-24.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen
Amalie. Eine wahre Geschichte in Briefen