XLIX. Brief

An Fanny

[120] Drei volle Monate schrieb ich Dir nicht, weil mich seither die Schwermuth, die Verwirrung meines Schiksals davon abhielt. Dafür sage ich Dir aber auch heute sehr vieles. – Erstens hat deine Prophezeihung bei der Haushälterin eingetroffen. Der Anlaß zu dieser Frechheit liegt in einem Geheimnis, das Du leicht errathen kannst. Wenn die Herren ihre Untergebenen zu Vertrauten machen, denn ist es immer schlimm in einem solchen Hause zu wohnen. Ich habe dieses Mädchen aus dem Staub des Elendes gezogen, ich habe ihr Brod verschafft, und nun ist sie samt dem Pfarrer meine erklärte Feindin. Wo des erstern Verfolgung herrührt, weißt Du schon lange, und die Feindschaft der leztern liegt in der Herrschsucht, im Eigennuz, in der weiblichen Eitelkeit. Sie arbeitet mit aller Macht ihrer Reize wider mich. Was nun der fühllose, unmoralische Pfarrer weiter aus mir machen wird, weis ich nicht. – Wir haben jezt eine Menge Gäste in unserm Hause, worunter sich auch der junge Vetter B*** befindet. Seine Donna hat ihn betrogen, beschimpft und verlassen. Das ist so das gewöhnliche Ende von unvorsichtigen Liebeshändeln. Die übrigen Gäste bestehen aus einer adelichen Familie von M***, die hier der freien Landluft genießen. – Mann, Frau und Stieftochter des erstern. Der Vater ist ein ausschweifender Mann, der sein liebes Stieftöchterchen zur Verzweiflung der Mutter mit schändlichen Absichten verfolgt. – Die Mutter ist ein Weib in ihren beßten Jahren, voll Gefühl und Menschenliebe; das Fräulein ein junges vortrefliches Mädchen und ganz das Ebenbild ihrer Mutter. Der junge schöne Vetter B***, die Einsamkeit auf[120] dem Lande, die schwärmerischen Bücher, das einfache Landleben, das wallende Blut eines feurigen Mädchens, rissen diese liebenswürdige Unschuld bald zu den Gefühlen hin, die dem Vetter B*** und ihrer Mutter sehr willkommen waren, aber um desto wüthender raste im Stillen der Stiefvater darüber. Der Umgang wurde nun diesen beiden jungen Leuten von demselben untersagt, die Leidenschaften bäumten sich um desto heftiger, und jezt sah man sich heimlich, aber desto öfter. Diese durch einander geflochtene Intrigue von Eifersucht und Liebe, von Stolz und gährenden Leidenschaften, bringt manchen bittern Streit unter dieser Familie hervor. Der Vater widerspricht, die Mutter widerspricht, und die Tochter kämpft fürchterlich mit dem Gefühl der Liebe und des Gehorsams. Das Mädchen ist mir in die Seele gewachsen, wir schlafen beide in einem Zimmer. Sie weint ganze Nächte durch, die arme Gekränkte. Ihr Zustand wirkt auf den meinigen, die Leiden des Unglüks sind für mein wundes Herz anstekkend, und wir beide sind durch die Bande der theilnehmenden Freundschaft unzertrennlich aneinander gekettet. Sie ist nun freilich als ein Stadtfräulein eitler als ich, aber unsere Seelen harmoniren durch gleiche Grundsäzze. Und dann hängt die Arme, wie eine eigensinnige Klette, immer an meinem Halse, wenn es ihr nicht gegönnt ist, den jungen B*** zu sehen. Die liebe Schwärmerin sagt, ich wäre sein Bäschen, und sie glaubte an meinem Busen sein Herz schlagen zu hören. Die Mutter ist ganz die Vertraute dieser Leidenschaft, und wünscht dem jungen Vetter B*** bald eine gute Versorgung, um das Glük ihrer Tochter zu machen. – Das Mädchen und der junge Mann sehen hoffnungslos einer finstern Zukunft entgegen, und doch fühlen sie sich zu ohnmächtig, ihre schröklich herrschenden Leidenschaften zu unterdrükken! Ich bin trostlos für meine Freundin, ich leide mit ihr! – Sie nährt in ihrem Busen eine zehrende Schwermuth, und das Mitleid ihrer[121] Mutter brachte sie auf den Einfall, mich zur tröstenden Gesellschaft auf einige Zeit vom Pfarrer auszubitten. Noch hat er ihr es nicht zugesagt. Wenn es diese Dame dahinbringt, so warten auf mich in der großen lebhaften Stadt M*** einige Tage Erholung für ein Jahr voll ausgestandner Leiden. – Schon vor einigen Wochen drang der eifersüchtige Vater meiner Freundin auf die Abreise, aber die vernünftige Gattin wußte es mit Anstand zu verhindern, denn seither ist sie noch immer mit Entwürfen beschäftigt, die jungen Leute zu verbinden und ihre Tochter den Augen des sträflichen Stiefvaters zu entziehen. – Eben dieser Mann ist gar mein Freund nicht, weil ihn das Vertrauen seiner Tochter zu mir ärgert. – Er blikt mit einem gewissen kalten Stolz auf mich herab. Er ist der Busenfreund des Pfarrers, weil gleiche Grundsäzze, gleiche Laster die Harmonie ihres Umgangs befestigen. Man begegnet mir in diesem Hause jezt schröklich erniedrigend; es scheint, als ob man mir mit jedem Blik die wenigen Wohlthaten vorwerfen wollte, die man mich so aus ungefährer Barmherzigkeit genießen läßt. – So ist denn überall die Tugend den wüthenden Fußtritten des Lasters ausgesezt! – Wird sie denn so fortdauern diese feste, aneinanderhängende Kette von unendlichen Verfolgungen? – Bei Gott! – Es ist unbegreiflich, daß ich rastlos und ohne Aufhören, wo ich nur hinkomme, Menschen finde, die mich durch und durch peinigen und verfolgen! Dieses hartnäkkige, unleidentliche Schiksal muß mit mir zur Welt gekommen seyn, sonst könnte es mich nicht so gräßlich anhaltend verfolgen! Manchem würden diese schnell aufeinander folgende Unglüksfälle unbegreiflich scheinen, und doch sind es lautere, reine Wahrheiten. Wer kann in das unendliche Kaos der Schiksale hineindringen? – Wer kann es fassen, daß eine Waise von der ganzen Natur gehaßt wird? – Wem wird es glaublich scheinen, daß die Jugend eines elternlosen Mädchens der Tirann[122] ihrer Ruhe ist? – Will so ein Mädchen der Stimme ihrer rechtschaffenen Erziehung folgen, will sie, ohne ins Abentheuerliche zu verfallen, ihr Herz rein behalten, was für Stürmen ist sie da nicht ausgesezt? – Es giebt ja der Niederträchtigen so viele, die auf die Verfolgung einer schwachen, wehrlosen Waise ein Recht der Unverschämtheit zu haben glauben. – Die Menschen sind fast alle verdorben, und nach dem Sturze desjenigen lüstern, der sich durch seine Unschuld auszeichnet. Wenn der ewige Vater nicht über mich wacht, so weis der Himmel was in der Zukunft noch aus mir wird. – Wer bürgt mir für Standhaftigkeit in gränzenlosen Verfolgungen, in unbeschreiblichen Lagen? – Romanenheldinnen doch nicht? – Die Menschheit bleibt Menschheit, und der Gebeugte unterliegt oft da am ersten, wo er sich sicher glaubt. Ich habe bisher alle Gründe der Moral streng zu meiner Beruhigung hervorgesucht, ich habe mich fest an sie gekettet, ich habe jede Lage wohl überdacht; aber wer steht mir bei drohendem Mangel für die Zukunft? – Mein Oheim ist gütig, aber nicht reich; meine Schwester lebt von meinen Zinsen, die gerade für sie hinlänglich sind; durch Händearbeit zu leben, dazu brauchts Ueberlegung, Geld um sich dazu einzurichten, und hinlängliche Kunst sich mit Prahlerei zu empfehlen. Du kennst meine Schüchternheit, Freundin, besonders da sich bei so einem Gewerbe eine gewisse Art Schamhaftigkeit bei mir einschleicht. Ich bin nicht dazu geboren; nur das Schiksal würde mich dazu erniedrigen. Zwar tausendmal beßer als lasterhaft werden, aber doch immer ein schwerer Kampf für die Eitelkeit eines Mädchens von gutem Hause. Wahrlich, meine Theure, ich würde noch einen solchen Brief anfüllen, wenn ich Dir die Gedanken über mein künftiges Schiksal ganz hersagen sollte, wie sie in meinem Kopf herumirren. Nahrungssorge ist eine schrökliche Sache für ein denkendes Mädchen! Du wirst so gut seyn und mir nicht eher schreiben,[123] als bis Du wieder einen Brief von mir erhältst. Ich möchte etwa während dieser Zeit abreisen und der Brief in unrechte Hände kommen. Lebe wohl!

Deine Amalie.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Amalie. Band 1–2, [Bern] 1788, S. 120-124.
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