XXXV. Brief

[67] Zwölf Uhr vorbei, aber im Bette es aushalten, das kann ich nicht! – Ich las den Aufsatz Deiner Philosophie, sprang aus dem Bette, riß dies Briefchen auf, und muß Dir, herrlicher Junge, sagen, was ich fühle! – So viel ist gewiß, daß ich bei Durchlesung dieses Aufsazzes laut weinte, die Hände gegen den Himmel rang, und den Allmächtigen mit Innbrunst um Deinen Besiz anflehte! – Gott! – Was bist Du für ein Engel, der blos kommen mußte, um durch Deine erhabenen Begriffe von Gott mir Beruhigung zu geben. – Du bist also mein Führer, mein Tröster, mein Freund, mein Gatte, mein Lehrer, faße diese Wonne, wer da will, ich kann sie nicht faßen? – Ich bin zu voll, zu unerschöpflich von dem Bild einer glüklichen Zukunft angefüllt! – O Friz, und das alles schriebst Du, das alles empfandest Du? – –

Theurer Jüngling! – Deine reine erhabne Seele fliegt weit über die meinige hinaus in den geläuterten Begriffen von menschlicher Bestimmung! – Ich bin durch das Schiksal verstimmt worden, gutes fühlendes Herz liegt in mir, aber keine völlige Aufklärung der Begriffen, die mich im Leiden hinlänglich beruhigen könnten. – Sieh, ich bin so aufrichtig, daß ich selbst vor Gott nicht aufrichtiger seyn könnte, aber wer auch an Deiner Seite nicht ganz Christ wird, der ist gewiß für immer verloren! –

Laß mich, Beßter, an Deinem Busen Thränen der Wehmuth weinen! – Daß ich Dich so lange entbehren mußte, daß Du erst jezt kamst, um meine Seele zu stärken zu jener Ergebenheit, die in Deinen Armen mich einst ruhig wird hinschlummern laßen ins andere Leben! – Heute kann ich[67] gewis wieder nicht schlafen! – Daß Du auch so viel Gutes an Dir haben must, um mich zum entzükkenden Taumel hinzureißen. O Du Holder, Trauter mit Deiner reizenden Seele! – Ich küße Dich hier vor Gott! – – Nina ewig die Deinige.

Quelle:
Marianne Ehrmann: Nina’s Briefe an ihren Geliebten, [o. O. ] 1788, S. 67-68.
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