An meinen Bruder

[157] 1813


Steig aufwärts, Morgenstunde!

Zerreiß die Nacht, daß ich in meinem Wehe

Den Himmel wiedersehe,

Wo ew'ger Frieden in dem blauen Grunde!

Will Licht die Welt erneuen,

Mag auch der Schmerz in Tränen sich befreien.


Mein lieber Herzensbruder!

Still war der Morgen – Ein Schiff trug uns beide,

Wie war die Welt voll Freude![157]

Du faßtest ritterlich das schwanke Ruder,

Uns beide treulich lenkend,

Auf froher Fahrt nur einen Stern bedenkend.


Mich irrte manches Schöne,

Viel reizte mich und viel mußt ich vermissen.

Von Lust und Schmerz zerrissen,

Was so mein Herz hinausgeströmt in Töne:

Es waren Widerspiele

Von deines Busens ewigem Gefühle.


Da ward die Welt so trübe,

Rings stiegen Wetter von der Berge Spitzen,

Der Himmel borst in Blitzen,

Daß neugestärkt sich Deutschland draus erhübe. –

Nun ist das Schiff zerschlagen,

Wie soll ich ohne dich die Flut ertragen! –


Auf einem Fels geboren,

Verteilen kühler rauschend sich zwei Quellen,

Die eigne Bahn zu schwellen.

Doch wie sie fern einander auch verloren:

Es treffen echte Brüder

Im ew'gen Meere doch zusammen wieder.


So wolle Gott du flehen,

Daß er mit meinem Blut und Leben schalte,

Die Seele nur erhalte,

Auf daß wir freudig einst uns wiedersehen,

Wenn nimmermehr hienieden:

So dort, wo Heimat, Licht und ew'ger Frieden!


Quelle:
Joseph von Eichendorff: Werke., Bd. 1, München 1970 ff., S. 157-158.
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