Der weinende Schornsteinfeger

[168] Man sieht Schornsteinfeger nicht oft weinen, aber gewiß können sich die Leser trotzdem sehr gut vorstellen, wie ein weinender Schornsteinfeger aussieht; die Tränen waschen in dem schwarzen Gesicht eine weiße Straße, bis zum Mundwinkel; hier verbreitert sich die Straße und erzeugt ein unbestimmtes Grau; wenn der Schornsteinfeger sie sich nicht abwischt, so sammelt sich an dieser Stelle wieder genug Naß, durch welches sich meistens eine weiße Rinne vom Mundwinkel bis zum Kinn bildet.

Arturo ist Schornsteinfeger und ist erst fünfundzwanzig Jahre alt. Der Theaterdirektor hat ihm eine Eintrittskarte gegeben, damit er einmal den Schornstein – er wird nicht sehr viel gebraucht – in seinem Hause reinigt. Er hat zum erstenmal eine Aufführung gesehen und ist von der Schönheit und dem guten Charakter Isabellens begeistert.

Er besitzt ein kostbares goldenes Armband mit einem großen spanischen Rauchtopas, das er in seinem Koffer aufhebt unter dem Bett in dem Keller, wo er mit den andern Gesellen schläft. Arturo ist ein ehrlicher Mann; er kommt in manches Haus, aber vor ihm können Millionen auf den Tischen herumliegen, wenn er allein im Zimmer ist und den Kamin fegt. Er ist arm, aber ehrlich, und das ist sein Stolz. Das Armband hat ihm eine vornehme Dame geschenkt; vornehme Damen haben zuweilen sonderbare Einfälle; sie hatte sich in Arturo verliebt, als er aus dem Kamin hervorkam, an welchem sie saß, indem sie in einem Buche las. Arturo ist ein anständiger Mensch und versteht zu schweigen, obwohl er manches erzählen könnte, was die Leute in Erstaunen versetzen würde, denn man erlebt merkwürdige Dinge in der Welt; aber[169] er erzählt nichts, er ist verschwiegen wie das Grab, und das Armband also hat ihm eine vornehme Dame geschenkt.

Dieses Armband holt er aus dem Koffer vor, in welchem sein Sonntagsanzug, das zweite Hemd, ein Liebesbriefsteller und ein Taschenbuch mit abwaschbaren Pergamentblättern liegen; er borgt sich von der Meisterin das Stück Kreide, von dem sie abzuschaben pflegte, wenn sie sich die Zähne bürstet, geht zum Kaufmann und holt sich ein Gläschen Branntwein und putzt das Armband, bis es funkelt. Dann wickelt er es sauber in einige Blätter, die er aus dem Liebesbriefsteller herausreißt und geht zu Isabellen.

Er geht in seiner Schornsteinfegertracht, denn er will ihr das Armband bringen, als sei er ein Bote, der von einem vornehmen und reichen Herrn geschickt ist. Ich erstrebe nichts für mich, sagt er sich; meine Belohnung wird sein, wenn ich ein Lächeln auf den Lippen meiner Göttin sehen darf.

So klopft er an, und als sie ruft, tritt er ein. Sie tut einen leisen Aufschrei, dann aber faßt sie sich schnell. Er tritt auf sie zu und reicht ihr das Päckchen, indem er sagt, daß ihre Lippen zwei Kirschen gleichen, welche zu pflücken ein allzukühner Wunsch wäre. Er hat noch einige andere Sätze in Vorbereitung, aber als er von den Lippen zu dem vornehmen Herrn überleiten will, versagt ihm das Gedächtnis, denn die Fortsetzung ist eigentlich nicht ganz organisch mit der Einleitung verbunden gewesen, weil diese aus dem Liebesbriefsteller genommen war. Deshalb reicht er ihr stumm das Päckchen.

Isabelle weiß nicht recht, was sie tun soll und zögert etwas, deshalb sagt der Schornsteinfeger, daß er ein ehrlicher Mann ist, und vor ihm können Millionen auf dem Tisch liegen, wenn er in einem Zimmer den Kamin fegt, und weil er ihr das Päckchen bei diesen Worten immer noch reicht, so nimmt sie es schließlich.[170]

Als sie es aufwickelt, sieht sie das wunderschöne Armband und sagt in der ersten Verwunderung und Freude: »Ah!« Arturo murmelt jetzt seine Sätze von dem vornehmen und reichen Herrn, Isabelle aber hört gar nicht auf ihn, sondern streift sich das Armband über ihr zierliches Händchen an ihren reizenden runden Arm, hält es sich vor das Gesicht, bald näher, bald weiter, haucht auf den Topas und bewundert, wie er anläuft, zieht ein Taschentuch vor und putzt an ihm, streift das Armband ab und nimmt es an den anderen Arm, schiebt den Ärmel höher und niedriger, um die Wirkung zu beobachten, läuft aus Fenster, hält es in den Sonnenschein, um das Blitzen des Steines zu sehen, und bricht zuletzt in ein glückseliges Lachen aus. Nachdem sie eine Weile gelacht hat, hüpft sie auf einem Bein durch die ganze Stube, indem sie dabei immer mit dem Arm, an welchem das Armband ist, vor ihrem Gesicht herumfuchtelt.

Der Schornsteinfeger tritt von einem Fuß auf den andern und lächelt glücklich, stolz und bescheiden. Zuletzt kommen ihm Tränen, und dies war nun die Gelegenheit, wo er weinte. Die Tränen aber sammeln sich bei ihm zuletzt nicht so wie bei Andern im Mundwinkel, sondern an der Nasenspitze, und weil er so gerührt ist über Isabellens Freude und seine eigene Großmut, so wischt er sie mit der Hand ab, und man kann sich vorstellen, wie sein Gesicht nun aussieht.

Endlich bleibt Isabelle auf einem Bein stehen, sieht Arturo prüfend an, sieht dann auf das Armband, sieht wieder Arturo an, macht sich die Worte klar, die sie vorhin mechanisch aufgenommen, aber nicht verstanden hatte, und zuletzt blitzt ein Lächeln des Verständnisses über ihr hübsches Gesicht. Es wäre doch auch merkwürdig, wenn ein Mädchen nicht merkte, daß ein Mann sie liebt, der vor ihr steht.

Wir wissen ja nicht, wie es sich mit der Dame verhalten haben kann, die ihm damals das Armband geschenkt hatte; damals[171] hatte er wahrscheinlich nicht geweint; jedenfalls sieht er jetzt nicht so aus, daß ihn ein Mädchen, sollte man meinen, hätte küssen mögen. Aber ist es das Armband, oder ist es seine Liebe, was Isabellen bewegt: sie eilt auf den Fußspitzen zu ihm, legt vorsichtig die Arme um seinen Hals und küßt ihn mit spitzem Mündchen.

»Das bin ich nicht wert, das bin ich nicht wert«, ruft schluchzend der Schornsteinfeger und stürzt aus dem Zimmer.

Er eilt durch die Straßen, der Leute nicht achtend, welche er anstreift, durch das Tor, auf die Landstraße hinaus, welche sich endlos dehnt. »Ich hätte das Armband für hundert Skudi verkaufen können, aber der Kuß ist mehr!« ruft er aus. »Was ist Einem Gold, wenn man liebt!«

Quelle:
Paul Ernst: Komödianten- und Spitzbubengeschichten, München 1928, S. 168-172.
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