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[27] Es war Ende Februar. Kein Schnee lag mehr auf der Erde. Ein leichter, feuchter, fast warmer Wind ging. Am Himmel regte sich alles in großer Unordnung. Zahlreiche, niedrige, ziemlich heitere Wolken fuhren von Süden nach Norden, die kleinern schneller, die größern langsamer, so eine über die andere hinaus, sich gegenseitig beschattend, stoßend und hemmend. Dazwischen schauten große Stücke eines nachtblauen, aber doch hellen Himmels herunter. Im Spiele der Wolken vergrößerten und verengerten sie sich wieder. Bald waren sie wie mächtige Fenster, bald wie unzählbare Ritzen einer verhängten Pforte, bald drohten sie gar im Geschiebe der nachdrängenden Wolken zu ersticken. Bleiche, kleine Sterne schimmerten daraus hervor. Aber ihr Licht erschien so unruhig und so dem Verlöschen nahe, als spürten auch sie wie das Blendlaternchen des Nachtwächters den Wind und müßten im Luftzug hin und herschwanken. Im Westen unter einer unauflöslichen Wolkenschicht wanderte der Mond dahin. Man sah nichts von ihm als die große Helligkeit, die er unter seiner Decke über die höheren Wolken in der Mitte des Himmels goß. Durch die Nacht ging jene Luft, in der schon die Erwartung von tausend sehnenden Lenzgeschöpfchen, ja schon etwas vom herben Geruch der Schneeglöcklein und von der Milde der Veilchen atmet.

Im ganzen Jahr weiß ich keine Zeit, die ich mehr liebe, als diese letzten Wochen des Hornung ohne Schnee,[28] mit winderfülltem, wolkigem Himmel, bleichen Wäldern und dem Schein der Leblosigkeit auf dem Felde. Denn unter der Decke tastet doch schon heimlich ein tausendfingriges Leben und jener süße Duft, der um die Wiege des unschuldigen Säuglings schwebt, steigt leise, leise aus der brachen Scholle. Die groben Sinne der Alltagmenschen dringen nicht in den Zauber solcher Tage. Aber für feine Nerven sind es Zeiten eines auserlesenen Genusses.

Schon ruhte das ganze Dorf. Nirgends ein Ton. Nur aus der Kammer des Kaplans hörte man das Perpendikel einer schnarrenden Uhr hin und her ächzen. Der engbrüstige Mann mußte nachts einen Flügel des Fensters offen halten. Durch die schwitzenden und mit Draht vergitterten Fenster der Kirche blinzelte die ewige Lampe und auch aus dem Studierstübchen des Pfarrers lächelte noch ein Licht. Aber dieses Lächeln hatte etwas Strenges und Ernstes an sich. Ich mußte an die Lampe des feilenden Cicero oder des philosophierenden Plato denken. Hinter den erhellten Vorhängen ging regelmäßig ein Schatten auf und ab.

»Er studiert die Predigt,« erklärte Andreas und sein blinzelndes Auge fügte verständlich hinzu: »Mein Gott, ich hätte nicht nötig, so herumzustürmen, um einen zeitgemäßen Sermon zu halten. Es predigt sich doch so leicht!« –

Jetzt bewegte sich der Schatten eiliger, er huschte eigentlich an den wehenden Gardinen vorbei, er flog[29] Plato schien einer entschlüpften Idee nachzurennen. »Ah, nun geht es dem Ende zu!« lachte mein Begleiter.

»Wieso?« fragte ich erstaunt.

»Bei ruhigen Darstellungen,« erzählte Andreas, »spaziert der Pfarrer gleichmäßig um den runden Tisch herum; kommen Einwürfe, so steht er still. Hat er aber den Teufel glücklich zu schanden gemacht, dann schwenkt er sein Kirchenfähnlein im Triumphe und rennt die letzten feindlichen Barrikaden um.«

Wir mußten beide lachen. Aber es war keine unehrerbietige Heiterkeit. Denn der Pfarrer galt uns als ein guter Prediger, der das sonntägliche Gemüt meisterlich zu fassen und zu erbauen wußte.

Wir gingen dem Gitter des Friedhofs entlang. Die dürren Stauden auf den Gräbern raschelten, manchmal klingelte auch ein schlecht gehängtes Metallschild am Kreuz. Sonst war es da wirklich totenstill. Zuweilen glitzerte etwas durch die Dunkelheit, sei es ein Messingknopf oder eine vergoldete Inschrift oder ein Blechkranz, der um die Kreuzarme gewunden war. Die Gräber schienen mir außerordentlich schmal und in die Länge gereckt und mir war, ich sähe ihnen deutlich die Figur der darunter ruhenden ebenso schmalen und ausgereckten Leiber an.

Ich weiß nicht, warum mir in diesem Augenblicke immer wieder die Erschaffung Adams einfiel. So einen länglichen viereckigen Erdteig, wie diese schmalen Häufchen[30] da, mochte der Erschaffer genommen und daraus den ersten Menschen geformt haben. Dann hauchte er die Figur mit seinem unsterblichen Odem an, und sie öffnete staunend das Auge, erhob sich, beugte sich tief vor dem Erzeuger und sprach: »Ich danke dir, Herr meines Lebens!«

Und jetzt liegen sie wieder da, diese Adams, mit der Erde in einen Haufen vermischt – gänzlich verstaubt!

Viele sind noch frisch unter dem Boden, dachte ich weiter. Ihre Leiber sind noch weiß, ihr Blut ist kaum erkaltet. Sie haben sicher noch einen Satz, den sie nicht ausreden konnten, auf den Lippen, – einen Schritt, den sie noch gerade tun wollten, gleichsam in den Sohlen. Und nun müssen sie hier, unfertig wie sie sind, vermodern! – Andere schleppten sich sozusagen selber müde zum Grabe. Das Alter hatte sie bereits so ausgemergelt, ihren Leib so braun, verwittert, erdenhaft gemacht, daß sie sich eigentlich nur noch in die Schollen zu legen hatten, um als ein Stück von ihnen zu gelten.

Viele lagen da, die ich wohl gekannt hatte. Ich erinnerte mich jetzt wieder an sie alle, nachdem ich ihrer jahrelang nie mehr gedacht hatte. Dort unter dem großen, dicken Stein schlief die Jungfer Manette, die aus ihren unerschöpflichen Taschen zuerst ein braun gestreiftes Schnupftuch, dann eine große Dose mit dem Bilde der Helvetia, dann sieben Schlüssel zu sieben[31] kleinen, reinen, duftigen Jungfrauenkammern und endlich zu guter Letzt immer etwas Süßes hervorklaubte, Pfefferminzplätzchen oder Malzzucker oder Schokolade. Gott schenke ihr dafür Milch und Honig des ewigen Kanaan! Etwas zurück, mehr in die Ecke gedrückt, ruht der alte Orgeltreter Kilian, der so treulich den Blasebalg versah, aber regelmäßig unter der Einteilung der Predigt einschlief und dann zur unfrommen Freude der Chorbuben behaglich schnarchte. Möge er jetzt zu Sankt Cäciliens Füßen kauern und Musik ohne Mühe genießen! – Besonders aber rührte mich das Wacholderbäumchen an der Mauer. Hier begrub man meinen Schulkameraden Valentin, der uns alle an Glanz der roten Backen und an Übermut übertraf und immer, wo uns eine Gefährde lauerte, hochsinnig sagte: »Ich gehe euch voran!« – und dann mutig vorausstapfte. Und einmal, da saß der Tod zuoberst auf dem Kirschenbaum in Kronenwirt Bronns Veilchenwiese und höhnte: »Gehst du auch hier voran?« – »Warum nicht?« – machte Valentin und warf keck die volle Oberlippe auf. Sprach's und fiel vom Wipfel und lag wie ein Schneemann unter den roten Kirschen.

Und weil er schon wie ein tüchtiger Mann sich gebärdet hatte, so ward ihm die seltene Ehre zuteil, mitten unter den Männergräbern seine weichen Knabenknöchlein zur Ruhe zu legen.

Die Kindergräber sind weiter hinten, man sieht sie von der Straße aus nicht, sonst würde ich die Grüße[32] meiner lieben zwei Schwestern aus der Überwelt hören. Aber zwei Reihen von der Straße weg sehe ich dafür das teuerste Grab, meiner Mutter irdische Ruhestatt.

Bei seinem Anblick fühle ich immer Herzklopfen und ich vernehme eine leise Frauenstimme: »Walter, – wie geht es ohne mich? – hast du Ordnung?« – Dann verschwimmen mir die Augen und ich drücke die Rechte, wo's am ärgsten klopft, und sage: »Es geht, – Mutter, es geht, wie es ohne dich –«

»Was hast du, Junge?« – fragt mich der Nachtwächter.

»Nichts, gar nichts,« sagte ich schluckend und würgend.

»Herr, gib ihnen die ewige Ruhe!« fuhr er fort und zog die Mütze.

»Und das ewige Licht leuchte ihnen,« versetzte ich im Tone des alten Kirchengebetes und entblößte gleichfalls das Haupt.

»Laß sie ruhen im Frieden!«

»Amen,« beschloß ich.

Mir wurde sehr feierlich zumute.

»Man sollte eigentlich für die Lebendigen um Ruhe bitten,« sagte Andreas. Er flüsterte nur. Ich nickte. »Die haben Ruhe!« fügte er leise bei und ließ die grauen Äuglein über die vielen Hügel, Kreuze und Steinmale fahren.

»Wie sie schlafen!« lispelte er wieder, – »stiller als Kinder! – man soll sie nicht mehr stören!« –[33] Unwillkürlich gingen wir jetzt auf den Zehenspitzen, so geräuschlos als möglich.

In diesem Augenblicke meinte ich, aus dem Gottesacker tiefe, stille, regelmäßige Atemzüge zu hören und einen Odem von solchem Frieden zu spüren, daß mir alles Grauen vor dem nächtlichen Friedhof verging. Er kam mir, je länger ich zusah, immer freundlicher vor, wie ein großer Schlafsaal, wo von Bett zu Bett alles die Härte des Tages ausschläft und an der Türe und auf den Fenstergesimsen schweigsame Geister wachen und den Frieden der Stätte wahren.

Aus diesem Bilde weckte mich das häßliche Kreischen eines Uhrschlüssels. Wir befanden uns vor dem Ammannhause, wo eine Kontrolluhr angebracht war, die um elf und drei Uhr aufgezogen werden mußte. Das mächtige Haus lag im Schatten der umliegenden Gebäude. Eine schneeweiße Katze strich gerade um seine Ecke. Die Läden standen offen und leise klirrte im Windhauch ein Scheibenflügel auf und zu. Die Fenster lagen so niedrig, daß man leicht in die Stube gesehen hätte, wenn es nicht zu dunkel gewesen wäre. Die nur angelehnte Haustüre, die gleich in die Küche führt, klapperte leise. Der kinderlose Ammann begab sich regelmäßig um neun Uhr mit seiner greisen Frau und dem Hausgesinde zur Ruhe. Da wurde nichts verschlossen oder zugeriegelt. Herr Markus Ebescher pflegte zu sagen: »Wenn ich nicht mehr bei offenen Fenstern und Türen schlafen kann, so will ich nicht[34] mehr Ammann sein.« – Er war ein riesengroßer, bolzgerader Mann, ein ehrfurchtheischender Patriarch, und er wußte wohl, daß kein Dieb und kein Nachtbubenstück sich an ihn heranwagen werde.

Nun eilten wir zum Dorfe hinaus und stiegen allmählich durch einen Wiesenweg dem Hügel zu. Aus einem Stall drang das Schnaufen einer Kuh, die unruhig den Kopf an der Holzwand rieb und mit den Füßen am Boden scharrte. Beim letzten Haus, am Fuße des Funkenbühls, zwinkerte ein Licht aus der niedrigen Kammer in den Feldweg hinaus. Auch hier stand das Fenster offen. Meister Andreas näherte sich dem Gesimse und wollte etwas hinaufrufen.

»Seid Ihr es, Nachtwächter?« kam ihm von innen eine schwache, aber deutliche Stimme zuvor. Man hörte Flüstern und das Geräusch einer laubgefüllten Bettdecke.

»Jawohl, Frau Katharina, – und was machen wir heute?«

»Danke, Vetter, der Nachfrage! – Ich spüre den Wind in allen Gliedern.«

»Wer wacht Euch die Nacht?« spann Andreas fort.

»Kronenwirts Agnes.«

Bei diesem Namen wurde mir warm. Dieses Mädchen war es, mit dem mich früher immer die Schulbuben geneckt hatten und jetzt das eigene Herz. Es glich so ganz den Mägdlein, um die im Gedicht der Volkslieder Müllersburschen, Wachtsoldaten oder[35] treue Knappen minnen, deren Ring sie tragen und deren Untreue sie nicht überleben würden.

»Wackeres Mägdlein,« hatte inzwischen Andreas in die Stube geantwortet.

Ich hätte ihm dafür um den Hals fallen mögen. »Ein wackeres Mägdlein!« – Also auch er, der Hagestolz, auch die seit Jahren sieche Katharina Frommel wußten das, nicht ich allein.

Das Flüstern in der Kammer wurde wieder hörbar. Was sprachen sie wohl miteinander?

»Vetter Andreas,« bat ich leise, »fragt doch, ob sie gut pflegt!«

»Aber kochen wird sie nicht können!« rief der Nachtwächter hinein.

Drinnen kicherte jemand.

»Freilich kann sie kochen, – den Kaffee und den Haberschleim – jawohl, das kann sie.«

»Ob sie's besser kann, als die Berta Walomer?« gab ich dem Nachtwächter neuerdings ein.

»Aber die andere, – wie heißt sie nur?« rief Andreas hinauf.

»Lachmanns Therese?«

»Nein, nicht die!«

»Die Berta, das Walomerkind?«

»Ja! – die wird's noch besser machen!«

Wieder kicherte es drinnen unbeschreiblich nett.

»Was Ihr denkt – weit besser kocht die Agnes!« – rief die Kranke vom Lager, »noch nie ist ihr die Milch[36] übergelaufen. – Du dummes Ding! ...« redete sie leiser, offenbar zu Agnes, »so laß doch! – was wahr ist, darf man vor allen Leuten sagen.«

Ich war selig. Ja, ja, die Agnes! – ihr gleich nichts Sterbliches. Sonne und Mond finden keine solche mehr.

»Könnte sie nicht ans Fenster kommen?« fragte ich leise den Marxele.

»Jetzt ist's genug! – bist du denn rein verrückt?« Spöttisch und doch liebreich sah er mich an. »Du Naseweis!«

»Mit wem redet Ihr, Meister Andreas?« fragte die Frau nun aus dem Kämmerchen hervor. »Ist jemand bei Euch?«

»Lehrers Walter ist mitgekommen, – will mal die Nacht ausspionieren, das Bürschchen.«

»Grüß' dich Gott, Walter!« erscholl jetzt die gebrechliche Stimme Katharinas; – »was doch den Studenten nicht alles in den Kopf kommt! – Du meine Güte! – Ist doch ein Volk das! –«

»Grüß' Euch Gott, Frau Katharina!« rief ich kaum hörbar.

»Wer schlafen kann, soll schlafen, Walter!« machte die Alte, »das ist mein Zuspruch.«

»Meiner auch,« bestätigte Andreas.

Mir aber war wohl. Agnes schlief also auch nicht. Wie köstlich, daß wir beide die gleiche Nacht durchwachten und gar, daß wir es beide voneinander wußten![37] – Natürlich, die alten Leuten, die glauben, das Gescheiteste sei Schlafen! Sie können uns nie früh genug ins Bett jagen. Aber wir Jungen glauben ihnen nicht. Wir wissen, kein Mensch ist so dumm, als wenn er schläft. Er denkt nichts, er weiß nichts, er kann nicht reden, oder wenn er's tut, so ist's ein Mischmasch von Unverstand. O nein, gescheiter ist zu wachen, zu wachen an der Studierlampe und in alten herrlichen Büchern zu lesen; zu wachen auf dem Turme und in den hellen Wandel der Sterne zu gucken; zu wachen am Fenster, wenn der Mond und die Poesie und die Sehnsucht und die Liebe und hundert andere ungreifbare Wesen daran vorbeigehen; zu wachen bei Kranken, zu wachen über ganze Dörfer wie ein König; zu wachen und dreist in nächtliche Stürme hinauszuspringen. Beim Donner, redet mir nicht mehr vom Schlafen!

Zwischen den Wiesenbäumen eilten wir nun schräg den Hügel empor. Droben setzten wir uns an den Ranft und betrachteten, ohne ein Wort zu reden, das unter uns liegende Gelände. Erst hier oben merkte ich recht, wie still die Welt war. Das Gewoge der Wolken am Himmel, das Aufflackern und Verlöschen der Gestirne, diese große überirdische Bewegung, ging so lautlos vor sich, daß man sie eher zu träumen glaubte. Das Dorf lag in einförmigem Halbdunkel mit seinen wie eine furchtsame Herde zusammengekoppelten, eng ineinander geschmiegten Häusern da. Wo ein starker,[38] hoher Baum, eine Pappel oder Linde etwa aufschoß, da duckten sich gewiß ihrer drei, vier zusammen. Nur einige besonders mutige lehnten sich nicht an fremde Schultern, so das Ammannhaus und die Kaplanei. Begreiflich – den Gemeindeammann stützte sein Amt, und der Kaplan las wohl auch nicht umsonst jährlich einmal seinen Homer mit allen helmschüttelnden Helden aus. Es war, als verstehe das Pfrundhaus, was sein Bewohner lese, und präge sich danach aus. Mit homerischer Breite legt es sich nach allen vier Seiten aus, kühn wie die Augen Hektors glänzen die kleinen Fenster, und der hohe Giebel mit dem Windfähnchen ragt wie des Achilles Helmbusch in die Lüfte. Solche Häuser können ganz wohl auf allen vier Seiten frei stehen. Aber die Häuser des Schuhmachers und des Bürstenbinders, selbst des Schulmeisters Wohnung, des Schulmeisters, der auf sein mageres Quartal und auf die Butterwecken der Kinder zu Neujahr angewiesen ist, ferner die Hütte der Wäscherin Babette Reiner, das schiefe und geflickte Lohhäuschen und die Weibelbehausung, kurz alle, die keine Obrigkeit und keinen Homer bei sich eingemietet haben, die müssen sich notwendig gegenseitig stützen. Sie sind aufeinander angewiesen, und so reicht denn selbst der stolze Gasthof zur Krone seinen linken Ellbogen dem niedrigen Küferhäuschen, freilich mehr als Stützender, denn als Gestützter.

Wo das Dorf aufhört und die Wiesenwege sich in[39] die Ferne verlieren, da liegen wohl noch da und dort kleine Einzelhäuser. Aber sie machen nicht den Eindruck mutiger Vorposten, sondern ängstlicher, schwächlicher Kinder, die auf dem Wege zur Mutter nicht mehr weiter konnten und auf dem Platze, wo sie nun stehen, liegen geblieben sind. In ihrer Zaghaftigkeit lassen sie nachts ein Lämpchen brennen, legen einen Hund vor die Türe und streuen Glasscherben auf die Gesimse.

Aber bald verliert sich auch noch diese furchtsame Spur von Menschenleben. Die große, dunkle Ebene dehnt sich aus, etwas dunkler, wo ihr ein Gehölze entkeimt, etwas heller, wo sich eine Halde gegen den Horizont neigt. Ja, ein geübtes Auge, zum Beispiel ein Dorfbube, der noch nicht Botanik am Gymnasium gehört hatte, konnte genau an den Schattierungen unterscheiden, wo Gras wächst, wo ein Acker liegt oder wo sich feuchtes Ried in sumpfiger Behäbigkeit durch die Auen dehnt. Einige Fetzen Schnee leuchten aus jenen Versenkungen des Bodens herauf, die die Sonne nur ein Stündchen am hohen Mittag trifft. Den Fluß erkennt man am Wuchs der Tannen und Buchen, die sein tiefes, rauschendes Bett gleich den bärtigen Lippen eines Sängers beschatten. In seinem ganzen Laufe kann man ihn verfolgen, wie er erst aus den Hügeln, die sich vom Dorfe weg gegen Süden ziehen, heraustritt, einen Haken auf tausend Schritte gegen Lachweiler schlägt, dann aber, als besinne er sich auf die großen Städte, die Dome und Fünfmaster, die seiner warten,[40] schleunigst wegeilt, da es unter seiner Würde stehen mag, so ein Menschenleben zu besuchen; aber wie er dann doch trotz seiner großen Ziele sich bald da, bald dort in einer mutwilligen Krümmung ergeht, selbst einmal, als habe ihn ein kindisches Bangen vor der Fremde erfaßt, zurückschwenkt, um hernach mit doppeltem Eifer vorzurennen, so recht wie ein zwanzigjähriger Bursche in den Flausen seines köstlichen Humors tut. Von seinem krausen Spiegel sieht man hier noch nichts. Erst in weiter Ferne blinken zwei Schleifen hervor, nachdem die Flut sich aus dem langen Tobel heraus in die Niederung gerungen hat und nun mit einem letzten Heimweh im Auge noch schnell einmal nach der Kinderstube zurückschaut.

Unmäßig liebe ich diesen Fluß, und wenn ich einmal an seinen Wassern stehe, kann ich mich fast nicht mehr wegreißen.

Aber das Auge wandert noch weiter, bis dorthin, wo die Erde wie mit einem feinen Messer abgeschnitten scheint und der breitgewölbte Bogen des Himmels beginnt.

Sonst kam mir die Welt von dieser Anhöhe aus unendlich groß vor. Heute dünkte sie mich beschämend klein. Warum? – Ich glaube, weil sie schlief und weil im Schlafe selbst ein Riese sich von einer Mücke nicht unterscheidet. Beide sind gleich kraft- und wehrlos.

Die Stadt, wo ich mit Jakob von der Krone vom Montag bis Samstag mittag als Gymnasiast weile,[41] wird durch eine wellenförmige Erhebung der Fläche völlig verdeckt. Nur eine leise Helligkeit, die irgendwo aus dem Boden, wie ein phosphoreszierendes Licht in die Luft fließt und sie in einem kleinen Halbkreis rötet, deutet mir die Lage an. Aber wie klein war dieser Halbkreis, wie klein also erst diese »menschen verschlingende Stadt«, die ich wegen ihrer Größe bisher so gefürchtet und verehrt hatte.

Plötzlich schrak ich zusammen. Hatte da nicht hinter uns jemand einen Stein geworfen?

»Das bröckelt immer so von der Mauer,« beruhigte mich der Nachtwächter und wies auf die Ruine des Schlosses zurück, die zwanzig Schritte von uns im Rücken stand. Dann richtete Andreas seine flink herumschießenden Augen wieder auf das Weichbild zu unsern Füßen. Seine Miene war belebt. Das dichte schwarze Haar, das lang und ungekämmt über die vorstehenden Ohren und die hohe, runde Stirn fiel, flatterte im Winde, der hier stärker ging, – seine Augen glänzten, die dünne, gerade, große Nase zitterte wie der Rüssel eines Käfers, und die Lippen, schmale, scharfwinkelige Lippen, wie ich sie zeitlebens nur bei sehr strengen Kritikern und bittern Spöttern sah, diese Lippen bewegten sich wie in einem unhörbaren, innern Gespräch.

»An was denkt Ihr jetzt, Andreas?« fragte ich fast scheu.

»Immer an das gleiche,« machte er gereizt.

»So sagt es mir doch!« flehte ich und nahm seine[42] magere, schwerknochige Hand zwischen meine warmen Knabenhände. »Lieber Vetter, nun sagt es sogleich, – ich merke, es ist etwas Schönes! – Sogleich oder ich laufe Euch davon!« –

»So lauf, Hagelsjunge!« forderte er, hielt aber meine Hände fest.

»Vetter!« schmeichelte ich, »sagt es nur! – Wir sind einer Meinung!« –

Damit hatte ich gewonnen.

»Ich habe die Dächer gezählt, – es sind hundert und mehr! – Verstehst du?«

Ich nickte bejahend, obwohl ich nicht wußte, was er damit sagen wollte. An einen seltsamen, unerwarteten Eingang war man bei Andreas' Gesprächen ja immer gewohnt.

»Unter dem Dache schlafen vier, fünf und mehr Menschen. Alle strecken die Glieder müde von sich, alle haben die Augen geschlossen, und die Arme hängen ihnen die Bettlade hinunter. Sie sind sich jetzt alle aufs Tüpfelchen ähnlich, was sag' ich, Dummkopf, – ganz gleich sind sie sich: der Ammann, der Pfarrer, der Wirt zur Krone, der Walomerbauer, sein Knechtlein, die Wäscherin, das Häuslermädchen, der Käserbub, die arme Gertrud im Spinnhaus, der Lehrer, dein frecher Jakob und das Kerlchen, das man gestern dem Küfer getauft hat. Alle sind wie tot. Und so geht es jetzt über die ganze Welt.«

»Ja,« sagte ich, von dem Gedanken überrascht, daß[43] mein stolzer Freund Jakob oder der reiche Bauernsohn Theodor Walomer zur Stunde genau so schwach seien wie ein eintägiges Büblein und, offen gestanden, davon wie mit Schadenfreude erfüllt, »ja, Andreas, das glaub' ich wohl.«

»Alle Tage zeigt unser Herrgott den Menschen, daß sie im Grunde gleich sind. Nur ein Schläfchen fällt sie an, und der Herr und der Bettelmann sind nichts mehr als Menschen, ungleich nur noch im Haar und Wuchs.«

»Wie Ihr doch recht habt!« bekannte ich und forschte an dem braunen, lederfarbigen Gesicht des Erzählers, ob er das aus den Büchern oder aus sich selber habe. »So was liest man nicht in Büchern,« entschied ich für mich, »das gibt er vom Eigenen.«

»Und da frag' ich mich, ob dieser alltägliche Unterricht, – wie sagt Ihr Gelehrten schon? – Anschauungsunterricht? –«

Ich nickte, aber es verletzte mich, daß er mich zu jenen Gelehrten zählte, deren Namen er mit einer spöttischen Betonung aussprach. Ich wollte jetzt um keinen Preis ein Gelehrter von jener Sorte, sondern ein Gelehrter wie Andreas sein.

»Ob dieser Anschauungsunterricht die Menschen nicht ein bißchen vernünftiger machen sollte, so etwa, daß die niedrigen Leut' den Rücken nicht mehr so tief bücken und das Herrenvolk die Nase nicht mehr so hoch hebt.« – Andreas riß einen dürren Halm aus und[44] zog ihn durch seine vom Tabakkauen gelben und schwarzen Zähne.

Sein Wort gefiel mir. Ich nickte kräftig und faßte sein Hand viel fester. Alles, was neu war und fast nach Revolution roch, schlug mir mächtig in die Sinne.

»Ich frage weiter, warum diese Menschen, die da unter den Dächern liegen wie Nullen, am Morgen aufstehen und wegen etwas mehr Seide oder mehr Namen oder mehr Münzen oder wegen sonst was, das ihnen von außen anklebt, nicht wie alle andern eine Eins, sondern eine Zwei, eine Drei, ja, eine Acht und Neun sein wollen. Noch mehr, die andern sollten Nullen bleiben, sollten wie Hunde hinter ihnen herlaufen und aus der Eins eine Zehn und Tausend und Hunderttausend machen! Jetzt liegen sie alle platt auf der Matratze, und morgen will einer dem andern über den Kopf schauen, als stände die Menschheit auf einer Leiter und wir natürlich zu unterst, – so ein Nachtwächter, – nur ein Nachtwächter! – Donnerwetter noch einmal!« – Andreas riß zornig einen ganzen Büschel Gras aus.

»O wie schön sagt Ihr das!« rief ich begeistert aus und preßte seine Rechte noch heftiger. Ich war sechzehnjährig und hatte es noch genau wie die Kinder, die nichts loben können, ohne es zugleich zu liebkosen, wie sie auch nichts verurteilen, ohne es zu mißhandeln.

»Das gefällt dir!« sagte Andreas selbstgefällig.

»Und wie!« – versetzte ich im Studentenjargon.[45]

»Ich frage weiter,« fuhr der Meister fort und raufte noch immer Halme aus der Erde, »warum zum Beispiel nur so ein reicher und vornehmer Mann wie der Kronenwirt Friedensrichter sein kann, und warum es durchaus einen armen Menschen braucht, wie der Andreas Marxele es ist, um den Nachtwächter zu spielen? – Könnte denn nicht auch unter dem schiefen Dach des Bürstenbinders ein Ammann erwachsen? – Und sind etwa alle die Geldbauern wie der Walomer, – ich red' ihm nicht zum Unrecht! – zu gescheit, um mit der Laterne die Nachtrunde zu machen? He? Das frag' ich. – Sag', Walter, – mir ist hie und da, die hätten zuerst einen Nachtwächter in ihrem Schädel nötig, so finster ist es da. Hab' ich etwa nicht recht?« – fügte er bei und lachte selber, da er mich lachen hörte.

»Das ist gediegen!« lachte ich immer noch. Damals konnte ein Student keinen Satz sprechen, ohne das famose Wörtlein »gediegen«. Der Geschichtsprofessor war uns »ein gediegener Kerl«, die Philisterin eine »gediegene Alte«, das Bier »ölte gediegen«, und der Kandidat, der für den erkrankten Lateinlehrer dozierte, ein »gediegener Schöps«, war »gediegen abgestunken«, als er uns eine Moralpauke halten wollte, aber »gediegen« überbrüllt wurde.

»Und die armen Leut', sollen sie so verschupft bleiben, he?« Andreas sagte verschupft für zurückgesetzt.

»Nein, auch die Ärmsten sollen was Rechtes sein[46] können, – das ist das einzig Senkrechte,« meinte ich mit studentischem Schneid.

»Senkrecht oder nicht, aber das sollen sie! – Du bist in der Stadt und studierst. Recht so! – Du hast Geld von der Mutter und dazu einen Brosamen Talent. – Aber ich war auch nicht auf den Kopf gefallen. – Schändlich! Weil ich meinen Reichtum im Kopf und nicht im Beutel hatte, durfte ich nicht studieren. Wäre es umgekehrt gewesen, so wäre ich jetzt ein Doktor oder ein Bezirksrat. So aber bin ich ein Nachtwächter geworden.«

Das sagte er mit einer unnatürlichen, herben Lustigkeit, die mir ins Herz schnitt.

»Nein, Vetter, Ihr seid wahrhaftig mehr als ein Nachtwächter!« – rühmte ich aufrichtig. »Von Euch kann das Dorf viel lernen, und es hat schon sicher viel gelernt.«

»Was du nicht fabelst!« scherzte er und sah mich mißtrauisch an. –

»Es ist mir heilig ernst!«

Andreas lächelte und drückte zufrieden meine Hand. Es schien, als wolle er sich diesem glücklichen Gefühl überlassen, das meine Worte erregt hatten. Doch mißmutig schüttelte er bald wieder den dichthaarigen Kopf.

»Nein, Walter, – am Tage mag's angehen, – aber des Nachts, wo's die Sterne hören, darf man nicht lügen. – Nein, nein, ich bin doch ein Dummkopf! – Ich weiß nichts! – Was ich zusammenlese,[47] ist wohl ein Haufen Stoff, – aber ich kann nichts ordnen, nichts Ganzes daraus machen. Tausenderlei weiß ich aus allen Fächern, tausenderlei denke und träume ich dazu; aber nicht ein einziges ist mir fest und klar vom Anfang bis zum Ende.«

Mit einer Bitterkeit und Trauer sagte er das, daß es mich selber erschütterte. So offen und geradeswegs hatte er gesprochen, daß ich fühlte, es wäre Sünde, etwas dagegen zu erheben. Jede Aufmunterung hätte niedrig, ja ruchlos ausgesehen.

»Wenn ich die Häuser da unten auseinanderrisse, eines hier hinauf, ein anderes zum Tobel hinunter setzte und alles so zerstreute, dann hätte ich immer noch alle Häuser, aber ein Dorf wäre das nicht mehr. – Merkst, wohin ich ziele, Junger? – Am Zusammenhang liegt alles. – So ist's auch bei mir. Die vielen Kenntnisse, die ich vor den andern Dörflern voraushabe, stehen nicht im Zusammenhang. Will ich sie zusammenbringen, so gibt es eine Flickerei, aber keinen Rock. Ich kenne euere Regeln nicht, keine Gesetze weiß ich, die Schule geht mir ab, Walter, die Schule!« –

Er krempelte den Kragen seines Rockes auf, ihn fröstelte. Dann ließ er die Hände lahm auf die Knie sinken. Ganz hinfällig schien er mir.

Ich wagte kein lautes Wort zu reden.

»Sieh, Walter, – ich fühle gut, daß es im Politischen nicht ist, wie es sein sollte. Unser Dorf erstickt unbewußt in der alten, dumpfen Luft. Man verstopft[48] alle Zugänge, woher ein frischer Wind kommen könnte. Die kleinen Leute ducken sich vor den Großen, die hablichen Vettern helfen einander, das Geld macht alles und der Stand der Eltern. Ein armes Kind muß Ziegen hüten, und wenn es mit seinem Genie einst Völker leiten könnte. – Das ist nicht recht, das will der Herrgott nicht so haben, das sollte anders sein.«

Der erregte Mann streckte die Arme in den Ärmeln und wand den Rücken. Seine Stimme zitterte. Es flimmerte darin wie von Tränen. Prometheus schüttelte an den Ketten. Aber die Ärmel blieben eng und der Rücken blieb eingeschnürt.

»Wenn ein junger, talentvoller Mensch,« zürnte Andreas, »über seine Schulbank hinauswächst und nach dem Gymnasium verlangt, so muß er eine schwere Geldkatze daheim haben. Sonst geht es nicht. Nun soll ein armer Siebentkläßler nach dem Examen den Finger strecken und rufen: ›Herr Lehrer, ich will Professor werden!‹ oder: ›Herr Lehrer, ich will ein Advokat, ein Mechaniker, ein Baumeister werden!‹ – Die ganze Schule würde sich den Bauch vor Lachen halten. ›Seht da, unser Hänschen will ein Herr werden!‹ hieße es, ›und seine Mutter ist doch nur eine Waschfrau, und sein Vater ist nicht der Kronenwirt, sondern nur sein Bäckergeselle. Seh' einer, wie hoch unser Hänschen hinaus will!‹ – Ich hab's in den Ohren, so würde man schreien, und die armen Leute, die selber auch einen Sohn hätten, schrien am lautesten und frühesten.[49] Ja, ja, sie will hoch hinaus, unsere Jugend, wenn sie bis zur Gleichheit und Gerechtigkeit hinauf will!«

»Im allgemeinen ist das so,« wandte ich schüchtern ein, »aber es gab doch auch arme Büblein, die es weit brachten. So der Walliserbub Matthäus Schinner, der kleine Newton und der geplagte Gymnasiast Schiller, aber es sind noch viele.« – In meinen Augen waren alle Gymnasiasten mehr oder weniger Märtyrer.

»Im allgemeinen ist das so,« äffte mich Andreas nach, »aber gerade im allgemeinen sollte das nicht so sein, nur als Ausnahme etwa! – Und dazu, hat deinen Büblein die Welt das Emporkommen nicht sauer genug gemacht, ja, ihnen davon die schönsten Jahre verpfuscht? – Nachdem sie den Magen durch Hunger und schlechte Kost verdorben haben, wird ihnen jetzt Wein und Braten in Fülle. Aber was nützt das ihnen, wenn sie es nicht mehr ertragen? – Und dann, Walter, das waren ein paar wenige Riesen. Die hatten einen Mut und Willen, um Berge zu versetzen. Aber unsere armen Landkinder sind nicht solche Riesen, – man kann ein großes Talent und einen kleinen Mut haben. Ja, gerade, weil das Talent so furchtsam ist, gehorcht es der grobschlächtigen Welt und flickt Schuhe im Dorfe oder weidet Kühe auf der Allmende, weil es kein Geld für Bücher und Schulen hat. Und die Menschen schauen zu und rühren sich nicht. Pfui doch über eine solche Welt!« – Andreas spie kräftig aus.

Ich war versucht, aus Ekel vor dieser Welt gleichfalls[50] auszuspeien. Zwar gehörte ich zu den Begünstigten. Aber in edler Unparteilichkeit wollte ich kein Vorrecht mehr haben vor den andern. Einzig der Adel der Gesinnung und das Talent sollte in der künftigen Welt den Ausschlag geben. O, Andreas und ich, wir wüßten schon, wie man die Welt zurechtzimmern könnte, daß sie harmonisch aussähe und alle Menschen gleiche Stübchen darin und gleich viel Fenster und gleich viel Sonnenschein hätten. O gewiß, wir zwei!

»Unser Dorf,« redete Andreas weiter, »ist freilich nicht schlechter als die übrige Welt. In der Stadt haben sie eine große Partei, namens Majorität – hab' ich es recht ausgesprochen? – die verwünschten fremden Wörter!«

»Majorität, ja, ja, so heißt sie!«

»Wer nicht zu ihr gehört, kommt auf keinen festen Sessel, und wenn er einen Doppelzentner Verstand hätte. Beim Stadtammann muß einer junkerlich sein, wie ein altes Wappen, bei den Sozialisten röter als Scharlach, sonst profitiert er nichts. Man fragt nach Konfession, nach Politik, nach Geld und erst ein Jahr später nach dem Verstand. Nach dem Herzen aber fragt man erst, wenn einer gestorben ist. Dann heißt es: ›Der Selige hat doch ein gutes Herz gehabt!‹«

»Nun sind aber,« schloß der Nachtwächter, »nur die wenigsten so gut katholisch wie du, oder so rot wie der Bebel oder so junkerlich wie dein Kamerad, der Jakob. Alle andern kommen zu kurz und so gibt es[51] immer mehr Unzufriedenheit und Unbilligkeit.« – Andreas seufzte tief.

»Da schlafen sie nun,« klagte er weiter und fuhr mit der Rechten geringschätzig über das Dorf hin, »schlafen unter ihren schweren Dächern und vergessen, daß sie Sklaven von ganz wenigen Menschen, oft von einem einzigen sind. O wenn sie alle dächten wie ich! – Wahrhaft, sie würden jetzt nicht schlafen.«

»Was täten sie?« fragte ich hastig.

Der Mann bog sich über den Abhang hinaus. Wie eine drohende, unheimliche Wolke schien er über dem Dorfe zu liegen. Er hatte jetzt etwas Großes, Gebieterisches in seinem Benehmen.

»Erheben würden sie sich alle,« schrie er und sprang auf vom Rasen, »um die Gleichheit und Brüderlichkeit würden sie kämpfen mit mir. Dehnen und recken würden sie sich, bis ihre Ketten auseinander fielen.«

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Heinrich Federer: Lachweiler Geschichten, Berlin [o.J.], S. 27-52.
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