Fünfzehntes Kapitel
Im Walde

[206] Im ersten Augenblick wollte Angelika der Rasenden nach, wollte noch unter der Haustüre sie mit Gewalt festhalten und ihr den Schwur abzwingen, daß sie nie und nimmer dem Unglücklichen sein Gäu verraten wolle. Aber womit sollte sie das Mädchen zu diesem Schwur zwingen, wenn selbst Mitleid und Liebe zum Vater, der an allem die Schuld hatte, rein nichts über dieses Felsenherz vermochten? Für so hatte sie die Zusel nicht gehalten, sonst würde sie kein Wort verraten haben. Einen Stein, meinte sie, müßt' es erbarmen; die Zusel aber ließ sich das Elend des noch nicht vergessenen Geliebten erzählen, heuchelte noch Rührung, bis sie alle Fäden in der Hand hatte, und eilte dann, ihn womöglich noch tiefer ins Verderben zu bringen. Vorhin sagte sie, aus dem Sack sei fort, und nun? Sie hätte versinken mögen vor Reue und Scham, dennoch versuchte sie nicht, sich mit ihrer guten Absicht zu trösten. Da stand sie und konnte gar nichts tun, was wirklich zum Frieden führen mußte! Wenn sie den Soldaten warnte, so konnte auch das wieder neue Feindschaft erregen. Angelika stand und sann und betete, bis ihr Kind sie von neuem erschreckte. Es hatte manches von dem Mann im Stadel aufgefaßt und behalten, und sie bekam nun genug zu tun damit, ihm die Sache recht lächerlich und unbedeutend darzustellen und soviel Unmögliches einzustreuen, daß, im Fall es plaudern sollte, sich der Andreas nichts mehr aus der Sache mache.

Zusel mußte schon der Leute wegen etwas langsamer durchs Dorf hinausgehen, als ihr anfangs lieb und ihrem Gemütszustande angemessen war. Gewaltsam mäßigte sie ihre Schritte, und das zwang sie gleichsam, auch ruhiger zu denken. Was Angelika von einer Versöhnung mit Hansjörg sagte, tat ihr um so weher, da sie es für unmöglich hielt. Und nun weckte Angelika noch gar mit Drohungen ihren Trotz! Es war gut, daß sie ging, denn nie war sie so hart und kam so weit, als[207] wenn ihr Widerspruchsgeist die Herrschaft über ihr Herz gewann. Sobald dieser schwieg, begann sich die Stimme des Herzens wieder zu regen. Die Worte Angelikas fingen wieder zu wirken an, und noch ganz anders, als da Zusel, ihr gegenüberstehend, nur auf Trotz und Verteidigung sann. Hansjörg konnte doch seine Waren daheim nicht wohl verbergen! Wenn er hausieren wollte, so mußte er damit gleich mitten unter den Leuten sein. Vielleicht ganz zufällig hatte er unter dem Dache eines der Ihren Sicherheit gesucht. Sollte er sie alle für Verräter halten, sie alle verachten? »Nein«, rief das Mädchen, »mir soll er nichts vorwerfen können!«

Sie kam mit dem Vorsatze heim, dem Vater einstweilen kein Wort von der Sache zu sagen. Sie hielt ihn auch, als der Vater sich etwas besorgt über die Anwesenheit eines Grenzjägers im Dorfe aussprach und dabei merken ließ, daß ihm jetzt eine Durchsuchung des Hauses nicht lieb wäre, da man sich für den Winter, wo die Schleichwege über die Berge ganz ungangbar seien, mit manchem einrichten müsse, was so ein Grünrock nicht zu sehen brauche.

Am anderen Tage berichtete die Magd, auf dem Stighof sei laut die Rede davon, der Soldat, Dorotheens Bruder, werde im Winter den Knechtsdienst dort versehen; allem nach müsse die Sache schon abgekartet sein; wenigstens Hans und Dorothee täten so gegenüber der alten Stigerin, die sich immer noch nicht recht darein ergeben wolle.

»Hat Hans denn einen Narren gefressen an diesem Gesindel?« fuhr der Krämer auf. »Was soll aus dem Tropfen werden, wenn er in Haus und Stall und Feld nicht mehr von diesen Leuten loskommt?«

Zusel war über den Bericht der Magd sehr erfreut. Eine Zentnerlast ward ihr damit vom Herzen genommen. Unbefangen teilte sie dem Vater das Geheimnis mit, welches sie belastet und ihr eine schlaflose Nacht gemacht hatte. »Es ist dem Burschen doch zu gönnen, daß er wieder auf einen ordentlichen Platz kommt«, schloß sie. »Er soll nicht sein Lebtag uns[208] fluchen und alle Schuld an dem, was er tut oder unterläßt, auf uns werfen können.«

Zu einer anderen Zeit hätte dem Krämer diese Rede auffallen und ein scharfes Verhör seines Kindes, das noch nie in der Art mit ihm von Hansjörg redete, hervorrufen müssen; jetzt aber war er so mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er den Vorwurf gar nicht merkte, der für ihn in dieser Rede lag. »Schleichhändler«, murmelte er, in der Stube herumschreitend, »erst Schwärzer und dann Knecht, erst ein freies, bewegtes Leben, wie es dem Waghals ansteht, und nun in das Einerlei auf dem Stighof, wo er in der Woche kaum den Schwärzertaglohn verdient bei aller Plage. Das geht nicht mit rechten Dingen zu. Gewiß, er wird nicht Hansens, er wird Dorotheens Knecht. Für sie will er arbeiten und Hansen dabei sagen, was alles er ihm habe opfern und für ihn tun müssen. Will doch dem Trotzkopf einmal sagen, was er da macht und – ja, das muß gehen.«

Der Krämer sah in dem Soldaten so gut den Rächer als Angelika. Drum sollte, mußte er bei seinem Stolz und Trotz erfaßt, gebunden und in eine Tiefe gezogen werden, wo auch Zusel ihn schaudernd sah, ohne daß noch ihr Mitleid sich regte. Der Krämer hatte seinen Plan fertig, einen in jeder Weise vorteilhaften Plan. Tatendrang trieb ihn aus der engen Stube und ließ ihn nicht mehr ruhen, obwohl er nicht gleich ans Werk schreiten durfte. Noch nie kam es ihn so hart an, den geeigneten Zeitpunkt ruhig abwarten zu sollen, als jetzt. Lange stand er unter der Haustüre und sann auf eine Zerstreuung. Plötzlich schoß sein Kopf in die Höhe. Dann verschwand er im Haus, um eine Minute später mit Hut und Stock wiederzukommen.

Rasch lief er hinunter zur Brücke, und eine Minute später war er auf dem Wege, der an der grauen, vielköpfigen Fluh neben der Ach zu den Dörfern der Sonnenseite führt. Beim Schneeschmelzen oder wenn die Ziegen im Wald ob dem kahlen Felsen weideten, sah er von seinem Hause aus hier schon manchen Stein herunterstürzen, der dann, auf dem[209] eingesprengten Felsenweg zu vielen Stücken zerschlagen, weiße Ringe in die blaue Ach graben zu wollen schien. Freilich ging er hier auf dem Kirchweg für die guten Bauern da droben, die ihn frommgläubig einen Glücksweg nannten, aber sein Blick blieb wie gebannt an den in den Felsen gehauenen Kreuzen, die, geschehenes Unglück verkündend, jenes Glaubens zu spotten schienen. Wie leicht konnte aus hundert Ursachen da droben einer der vielen Steine sich lösen und ihn unversehen in die Ewigkeit bringen. »Ich will beichten, nächstens, sobald ich mit Hansjörg im reinen bin, und dem steht es ja frei, zu tun, was er will. Ich werde ihn nicht zwingen, nur reden mit ihm«, rief er aus, immer zu den hervorhängenden Tannen aufschauend, als ob er damit den Geist beschwichtigen wollte, welchen die Sage als Wächter für fromme Kirchgänger da oben hausen ließ. Er rief so laut, daß der Geist, wenn er auch nur mit Menschenohren versehen war, es trotz dem Tosen der Ach hören mußte. Dabei lief er immer schneller, denn zurück durfte er fast noch weniger als vorwärts, und der Schweiß stand ihm auf der Stirn, als er endlich mit einem fröhlichen »Gott Lob und Dank« unter dem letzten über den Weg herausragenden Felsenkopfe vorüber war. »Wenn jetzt Hansjörg da droben gestanden wär'!« dachte er noch zitternd und schloß die Augen; aber der Bursche stand drohend vor ihm, bis er sie wieder öffnete und beinahe erstaunt die friedlich nebeneinander stehenden Häuser vor ihm sah, umkränzt vom herbstlich buntfarbigen Wald unter dem Felsen, der die wunderbar blaue Decke des Himmels zu tragen schien. Alles war so friedlich und still, daß er sich seine Aufregung nicht mehr zu erklären vermochte. »Schrecklich«, hauchte er, »wär' so ein Tod ohne Feuer und Licht freilich, aber wenn man nun so krank daheim liegt und die Sterbkerzen sind schon gerichtet und man hat der Magd schon Befehl gegeben, die Immen, wenn er in den letzten Zügen liegt, auf einen anderen Platz zu stellen, daß sie nicht auch mit dem Herren und Hausvater sterben ... man könnte gleich krank werden vor Angst, wenn man sich's denkt, und kommen[210] tut's halt doch und bald, wenn man schon so alt ist wie ich. Kräftig bin ich wohl noch, aber das ist wie dieser schöne Herbsttag. Er macht nur die Blätter gelb und treibt nichts mehr als Zeitlosen. Auch die fehlen meinem Kopfe nicht. Ja, bald ist's aus, und was sagen sie dann, und was machen sie mit dem, was ich erschwitzt und ersprungen hab'? Ich muß mir's gefallen lassen und kann nichts mehr machen.« Wäre dem Mütterlein, welches dort in dem schattigen Schöpfe seines Häuschens saß und spann, zumute gewesen wie dem Krämer, es hätte gleich zu beten angefangen um ein seliges Sterben und eine glückliche Ewigkeit. Aber das Weiblein hatte ganz andere Gedanken, als es den Krämer kommen sah, der ihr schon lange mit Versteigerung seines schönen Waldes da droben ob dem Dorfe gedroht hatte. Ihm war es gewiß, der harte Mann komme nur, um sein Guthaben zum letzten Male zu fordern, und es hatte nicht ganz unrecht, denn wirklich trieb ihn nur das da herauf. Den schönen Wald wünschte er lange zu kaufen, und nun sollte das seine Kurzweil werden. Aber an der Fluh drunten war ihm ein ganz anderer Kopf gewachsen. Nein, alle Welt sollte sich nicht freuen über seinen Tod wie die Ameisen da neben dem Wege, die sich eben an eine überfahrene Eidechse machten. Er machte der Witwe entgegen ein so freundliches Gesicht, als ihm nur möglich war, und als er sah, daß sie ihn anreden wolle, sagte er: »Weiß alles, wenn du nur einen Zins gibst. Verkauf' nur eine einzige Tanne, das wird mehr als reichen. Ich brauche Holz und will mir gleich da droben einen Stamm aussuchen.« Der gerührte Dank der Witwe tat ihm weh, und furchtbar brannten die Freudentränen, die sie weinte, seine Seele. Er hatte doch nur getan, was recht und billig war, und daraus machte man soviel Wesens. Gab's ein schärferes, vernichtenderes Urteil über sein bisheriges Leben und Wirken? Dieser Dank, weil er einer armen Witwe den einzigen Besitz nicht um ein Sündengeld abdrückte, sobald er sie in der Hand hatte![211]

Ohne Abschied ging er weg und bog, ohne noch auf den Weg zu achten, sogleich aus dem Dörfchen gegen die Halde, die, in frischem Grün prangend, der liebste Weideplatz der jetzt frei auf den Feldern sich herumtreibenden Kühe und Ziegen geworden war, da in der Ebene unten neben den dritten Grasstoppeln des Jahrgangs nicht viel Grünes mehr gefunden werden konnte. Dem Krämer wurde ganz wunderbar zumute mitten in dem Schellenläuten dieser friedlichen Tiere. Sie ließen sich gehen, neideten sich nicht, und der Mann begann sich vor ihren fragenden Blicken beinahe zu fürchten. Er lief so rasch aufwärts, daß er sich, als er ob den Weideplatz kam, ermüdet auf einen bemoosten Stein setzte. Hier nun konnte er ungesehen verschnaufen und sich das Schellengeklingel wieder aus den Ohren kommen lassen.

Schon früher, er konnte sich noch ganz gut erinnern, wann und unter welchen Verhältnissen, war er mehrere Male hier gesessen auf dem nämlichen Steine und hatte so von oben hinausgeschaut über die Häuserreihen rechts und links neben den beiden Ufern der Ach, deren Tosen hier kaum noch gehört wurde. Dort unten wohnte keiner, mit dem er, der einzige Krämer seit Jahren, der alles im Dorfe kaufte und verkaufte, noch nichts zu tun gehabt hatte. Sonst, wenn er hier saß, mußte er lächeln über die guten Tröpfe da drunten, für deren Vorsehung er sich selbst, die Herren im Pfarrhof und einige alte Basen und Pflastersibyllen hielt. Und noch war ja alles beim alten. Noch arbeiteten und verbrauchten sie alle für ihn, und doch wollte und wollte jenes Lächeln, jenes behagliche Gefühl nicht mehr kommen! Dort drüben im entlegensten Winkel der Gemeinde, in der Gruben, stand das schlechte Hüttchen des armen Holzhackers. Grad' erst am letzten Sonntag hatte der für den hart verdienten Wochenlohn seiner Herzallerliebsten einen silbernen Rosenkranz gekauft und sich dabei von ihm übertölpeln lassen. Aber – mochte das Silber des Geschenkes auch falsch sein, die Liebe des opferwilligen Burschen, der nicht einen Kreuzer mehr herunter marktete am hohen Preise, die war gewiß echt, und[212] das hatte wohl den höchsten Wert auf dieser Welt, wo es soviel Unechtes, Falsches gibt. Vielleicht machte die beiden echte Liebe glücklicher als echtes Silber!

Es erfaßte den Mann eine Art Heimweh, als er so viele zum Teil recht ärmliche Häuser überschaute, in denen er friedliche, gutherzige, gläubige und glückliche Leute wußte, denen höchstens einige Taler fehlten und – denen kein Mensch auf der weiten Gotteswelt im Wege war. Und er, der sich so plagte, ihnen auf den Köpfen herumtrampeln zu können, was hatte er bei seinem scheinbaren Erfolge bisher davon, und was dann, wenn er neben so einem auf dem Friedhofe lag? Einmal war das so, vielleicht schon bald –

»Und dann?«

»Auf, fort!«

Der Krämer dachte nicht mehr an den Zins, welchen er sich im Walde der armen Witwe hatte suchen wollen, wie viele Tannen da auch über ihn in das tiefe Blau des wolkenlosen Himmels hineinragten. Hier hörte er nichts mehr vom Schellengeläute der Kühe, die drunten an der Halde weideten. Aber auch das Brummen der von einem leisen Lüftchen geschüttelten Wipfel erschreckte ihn. Zwischen diesen jahrhundertealten Stämmen kam er sich recht klein vor. Auch hier war Friede. Es wurde ihm unheimlich im grünen Halbdunkel. Lange suchte er nach einer offenen Stelle, wo die Sonne hereinschien, um sich abermals zu setzen. Dumpf und unsicher hörte er einige Axthiebe fallen. »Ich möchte kein Holzhacker sein – und doch wollt' ich, daß ich einer sein könnte«, sagte er, mit seinem Stock an den Stamm einer Tanne schlagend, daß er selbst über das Geräusch und den eigentümlichen Nachhall weit im Walde erschrak. Als Knabe war er so gern im stillen Wald, und dieser Nachhall machte ihm Spaß. Wie wohl ward ihm damals, wenn er etwas tat, selbst, eigenhändig auf der Welt etwas anders machte, als es war. Und jetzt, in der kurzen Zeit seit damals schon so starr, so – nein! Er war doch noch nicht gar so alt, war noch ziemlich rüstig, konnte doch auch noch etwas tun, um sich aus[213] dem Gedankenspinngewebe zu reißen, wenn er sich recht ermannte. Früher schlug er nur so drein, daß es Fetzen hagelte ringsum, wenn ihm etwas überzwerch in den Kopf kam.

»Wollen doch sehen, was er noch kann!« rief er aufspringend, grub mit der Hand einen Stein von ziemlicher Größe los, und bald stürzte derselbe funkensprühend im Halbdunkel über den felsigen Abhang in die Tiefe.

»Halt, Freund!« rief eine Stimme, über welche der Krämer fast zum Sterben erschrak.

Zwischen zwei jungen Tannbüscheln erschien eine Gestalt, eine große männliche – der Hansjörg in seinen besseren Bauernkleidern.

Noch vor zwei Stunden war der Krämer gewillt, diesen Menschen so schnell als möglich aufzusuchen und ein vertrautes Wort, ein wichtiges, mit ihm zu reden. Jetzt aber wollte er ja gar nichts als hier sein und allein. »Was willst denn du da?« fragte er etwas rauh.

Hansjörg kletterte am Felsenkopf herauf wie eine Waldkatze, ohne darauf zu achten, daß er's nur wenige Schritte weiter rechts oder links viel bequemer gehabt hätte. Erst als er hart neben dem Krämer stand, antwortete er: »Was ich wolle? Nun, wenigstens nicht ruhig warten, bis mir ein Stein an den Verstandskasten springt und zu den sieben Löchern, durch die schon zu viel heraus und hinein kommt, noch das achte schlägt. Stein und Bein paßt denn doch wohl nicht überall so gut aufeinander als in den hochweisen Reden der alten Stigerin.«

»Was tust du denn da unten?«

»Jetzt natürlich nichts mehr.«

»Du bist also fertig?«

»Das ließe sich mit einem einzigen Worte beantworten, nicht wahr?«

»Kommst wohl wieder aus dem Bayrischen?«

»Ursprünglich von daheim wie die Kinder.«

»Aber heut?«

»So nach und nach«, antwortete Hansjörg lachend, »könnte[214] man noch von viel Dümmeren manches er fahren. Gewiß hast du aber nichts bei dir, daß man etwa von Gemeinde wegen antworten muß.«

Das war aber dem Krämer denn doch selbst in seiner heutigen Stimmung zuviel. »Wenn du einmal dem Gemeindediener in die Hände kommst, wirst du es schon merken. Es gibt aber noch ganz andere Kerle mit Haar auf den Zähnen, die dich in unliebsamer Weise zum Reden zwingen könnten.«

»Dann«, spottete Hansjörg, »müssen's freilich andere sein als der, welcher hier ist.«

»Weißt du, Bürschchen, daß gestern und heut ein Grenzjäger bei der Kronenwirtin ist?«

»Das heißt bei ihrer Bierpfanne. Solang er dort ist, ist er nicht hier.«

»Nur ein Wort von mir zu diesem, und –«

»Und eins von der Wirtin sind zwei.«

»Eins ist genug.«

»Dann will es der Grenzjäger – ich kenn' ihn ganz gut – gewiß lieber von der Wirtin, wenn sie auch schon ein bißchen alt ist.«

»Nur deinetwegen«, rief der Krämer, »wird er den Eid nicht brechen wollen. Ich gelte etwas beim Amt. Noch nie hat es gegen mich gesprochen, und wenn ich will, kann ich ihn noch heut zu einer Hausdurchsuchung treiben.«

»Der würde Augen machen drüben am Argenstein und suchen.«

»Die Sach' ist nicht halb so spaßig. Mein Töchtermann, der Andreas, will deinen schlechten Kram nicht mehr länger unter seinem Dach.«

Hansjörg wechselte die Farbe, doch schon einen Augenblick später sagte er gefaßt: »Das ist mehr als ein Wort, und zudem nicht von dir.«

Der Krämer biß sich auf die Lippen. Er hatte schon zuviel gesagt, denn wenn er den Burschen nun nicht gleich fing, so konnte er ihm wieder ganz entrinnen. Da mußten schon andere Saiten aufgezogen werden. »Andreas«, sagte er gemütlich,[215] »ist eigentlich ein guter Löffel und tut fast immer, was ich will.«

»Und du«, lachte der Bursche, »mußt einstweilen, was ich will, dann hab' ich also dich und den Andreas, zwei Fliegen mit einem Schlag, oder ist eins noch gar ein Hummel?«

Der Krämer sah den Soldaten erstaunt, erschrocken, fragend an. Er sah dessen Auge wild aufblitzen, als er nach kurzem Schweigen, welches dem verlegenen Mann wohl Zeit zu einer Frage lassen sollte, erklärend fortfuhr: »Wer kann, der tut, was sein Vorteil ist, und macht nicht viel Federlesens, hast du einmal gesagt. Nun gut, heut' bin ich der Stärkere. Krämer, ich kann! –«

»So«, sagte der Erbleichende mit vor ohnmächtiger Wut bebender Stimme, »du schleichst also in Wäldern und Tobeln umher, eins dann plötzlich wie ein Straßenräuber zu überfallen!«

Hansjörg stellte sich hart vor den Krämer, der an allen Gliedern bebte. Stolz und wunderbar groß stand der Bursche da. Seine Wangen glühten, seine Augen blitzten, sein glühender Atem traf die mit kaltem Schweiß belegte Stirn, und seine kräftigen Hände erfaßten die Schultern des in sich Zusammensinkenden, während er mit donnernder Stimme rief: »Du elender Wicht! Schau, ich möchte dich zerreißen, und ich wär's imstand. Vernichten könnt' ich dich, zertreten, daß man nichts mehr säh' als einen unsauberen Platz, wo gewiß nie mehr Gras wachsen, nie mehr ein noch so müde gehetztes Tierlein ruhen tat. Du bist mir aber zu erbärmlich. Ich will nicht dein Richter sein, denn es gibt einen, der noch viel mehr weiß. Nur zeigen will ich dir, wie elend du bist, wenn du einmal aus deiner zusammengeschacherten Herrlichkeit herauskommst in gesunde Luft. Dir spricht nichts für als dein Alter, und das ist nicht ehrwürdig. Aber fürchten mußt du dich nicht vor mir. Hier unter heiterem Himmel übergeb' ich dich dem Strafgericht des furchtbaren dreieinigen Gottes! Es gab wohl Tage, Wochen, Jahre, wo ich uns so zusammen daher wünschte mit verflucht heißem Wunsch, brünstiger,[216] als ich jemals ein Gebet zum Himmel schickte. Auf ganz andere Weis' noch hätt' ich dir den Meister zeigen wollen. Jetzt aber ist's mir genug so, und ich mag das Kreidemännchen nicht wegwischen. Seine Kraft steckt ja doch nur im Schimmel, der sich daheim um seine Taler legt.«

Dem Krämer war es, als ob der Boden unter ihm wanke. Vernichtet sank er zusammen. Hätte er die Kraft seines Gegners gehabt, es wäre ein furchtbarer Kampf entstanden und hätte wenigstens einen von ihnen nicht mehr lebendig vom Platze gelassen. Begann es doch jetzt zuweilen in seinen Armen zu zucken und zog ihn fast mit Gewalt vom Boden auf, aber, jedesmal noch schwächer, sank er zwischen die halbverdorrten Waldgrashalme zurück. Wohl sah ihn niemand als Hansjörg, aber ihm war, ob der Wald, ob jeder Stamm, jeder Grashalm Augen und Ohren bekommen hätte. Die welken Blätter schienen sich kichernd etwas zuzuflüstern, die ernsten Tannen schüttelten brummend die bebarteten Äste, und die Vögel ob den Wipfeln erzählten sich etwas und flogen wieder weg. Oh, wenn auch er hätte fliegen können bis – ja, wo hätte er denn gleich etwas gegen den Menschen tun und sich beruhigen können? Jetzt empfand es der Krämer so schmerzlich wie noch nie, daß seine Kraft wirklich nur in seinen Talern liege. Es war ihm das kein neuer Gedanke, aber sonst hatte er ihn stark, tätig gemacht, heute schien er ihn vernichten zu wollen.

»Ich bin sonst ein guter Kerl«, begann Hansjörg nach langem Schweigen beinahe mitleidig. »Nur dein böses Gewissen hat dich niedergedonnert. Ich wäre ganz ruhig da drunten geblieben, bis die Nacht mich und meinen letzten verbotenen Pack bedeckt hätte.«

»Den letzten?« fragte der Krämer lauernd.

»Ich will ein ordentlicher Mensch werden.«

»Du gehst auf den Stighof. Ist das klug?«

»Nein, zum Bauernknecht paß ich wohl trotz der Kraft nicht.«

»Das glaub' ich auch«, sagte der Krämer, dem allmählich wieder etwas leichter wurde.[217]

»Aber«, sagte Hansjörg, »wohin wär' ich besser? Und hineinleben kann man sich in alles. Hab' ich mich doch sogar ans Kasernenleben gewöhnen können, so daß mir selten etwas den gottgesegneten Appetit verdarb. Der schlimmste Tag war der, wo ich dir von Zusels Briefen schrieb. Ich hatte ein Viertelhundert Prügel überkommen, weil ich einem erstickten Studenten, dem sein Vater dann eine hohe Stelle kaufte, nicht viel mehr Buckerle machte, als er verdiente. Herrgott, und daheim saßen sie behaglich und verhandelten Menschen und Waren! Die Zusel schrieb auch seit Monaten nicht mehr. Alles schien aus, und ich saß ohne Geld im Arrest und hatte keine Aussicht mehr auf die schon täglich erwartete Beförderung. Da schrieb ich in der Wut an dich wie ein dummer Junge, der abgetragener Butter auch das Brot nachwirft. Dein Geld hat mich gar nicht gefreut. Einige Freunde haben's vertrunken an einem Tag. Ich hab' nicht einmal helfen mögen und habe geweint die hellen Tropfen. Mir war's, als ob ich lachende Erben das Liebste meines liebsten Freundes verzechen sähe.« Wider Willen mußte der Krämer sich das Bild, das Hansjörg da brachte, recht lebhaft ausmalen. Ja, lachende Erben – das machte den Schluß. Aber Susanne war dazu zu weichherzig. Jetzt wurde sein Trost, was ihm sonst immer im Wege war. Ja, die Zusel war ein gutes Kind. An die wollte, mußte er sich halten, die noch glücklich machen. Es ging leicht, wenn sie nur diesen Burschen aus dem Sinn schlagen konnte. Das aber schien ihm nie schwerer als jetzt, wo er ihn, wenn auch zähneknirschend, achten mußte.

Den Kopf auf den im Moose ruhenden Arm gestützt, saß der Krämer sinnend, heimlich Rache brütend, neben dem Burschen, der sich nach der Aufregung immer mehr in liebe Erinnerungen verlor. »Ach Gott«, rief er aus, »wie hab' ich's dumm und schlecht gemacht, daß mich das gute Mädchen mein Lebtag drum ansehen muß, wenn es auch sein Herz nicht mehr so schwer traf, wenn auch die Lieb' vergangen war neben dir wie die Blumen unter Schnee! Schuld bist nur du, alter Sünder, daß ich so tief, tief herabkam.«[218]

Jetzt hatte der Krämer einen Ableiter gefunden. Trotzig richtete er sich auf und sagte: »Wer das Herz hat zu solchem Streich, soll nur sich selbst bei der Nase nehmen. Wurde von mir ein liebendes Herz verraten für so niederen Preis?«

Der Krämer hatte wirklich das Gefühl, für seine Zusel einzustehen. Das gab ihm wieder Mut und machte ihn hart und fest, wieder ganz zum alten. Seine Klugheit hatte des Burschen Schwäche heraus und suchte gleich etwas damit zu machen. Nur einen Handel, bei dem er selbst mehr wagte als sein Gegner. »Zu geschehenen Dingen«, meinte er, »muß man das Beste reden; wichtiger für uns drei – ich meine Zusel auch – ist die Zukunft.«

»Die hast du mir zerstört.«

»Es ist grell in dein Leben eingegriffen worden, aber nur für Stighansen. Das weiß der und wird noch etwas gutmachen wollen. Meinen tut er es wohl gut, aber mir kommt's vor, ob da einer dem anderen die Handschuhe leihen tat zu Strümpfen. Ich möchte dir besser helfen, da ich auch etwas gutzumachen habe.« Mit diesen Worten leitete der Krämer ein langes und breites über die Eigenheiten der geld- und namensstolzen Stigerin ein, neben der ein tüchtiger Bursche kaum auszuhalten vermöchte, wenn er noch viel mehr eine Knechtsnatur hätte, als das an Hansjörg zu bemerken sei. Der Krämer wurde um so eifriger, weil er nicht bloß den anderen, sondern auch sich selbst über zeugen wollte, daß er es nur gut meine. »Arbeite du wieder für mich – für uns«, schloß er eine lange Abhandlung, »und du sollst nicht mehr an der Klage sein.«

»Nein«, antwortete Hansjörg entschieden, »lieber mich noch einmal verkaufen lassen und für immer. Im Stüble neben dem Laden – das hab' ich verschworen – soll mich kein Mensch wieder sehen, wenn ich so alt werde wie die Sünde.«

»Ist mir lieb zu hören«, lächelte der Krämer. »Kein Mensch weiß, was es wieder gäb', wenn du und das Blitzmädel unter einem Dache lebten.«[219]

Die Wangen des Burschen röteten sich. Er sah Zusels Vater erstaunt an und fragte mit unsicherer Stimme: »Was soll ich machen?«

»Daheim für mich arbeiten.«

»Um ein hübsches Vermögen tat ich nicht mehr immer sitzen.«

»Nicht nötig; du sollst genug Bewegung haben.«

»Was hättest du denn im Kopf?«

»Bleib, was du bist, ein Schwärzer, und mach' mit mir gemeine Sache«, sagte der Krämer. »In meinem Laden kommt alles am besten fort. Auch brauchst du dann mich so wenig zu fürchten, als unsereiner das Amt zu fürchten hat. Du bist sicher, an Betriebskapital und Lohn soll's nicht fehlen, und du mußt nichts als das klug gewählte Warenlager teilen mit einem, der dir ein mächtiger Freund werden kann. Daß dann die bisherige Feindschaft ein End' hat, ist auch noch etwas wert.«

»Knecht«, stotterte Hansjörg nach einer Weile, »wär' ich freilich nicht gern, und wir könnten immer wieder aufhören –«

»Allerdings, wir binden uns gegenseitig und machen uns gegenseitig frei. Du müßtest nicht einmal nur mir als Schwärzer dienen; doch als Soldat und sonst wird es gut sein, wenn wir jedes Aufsehen vermeiden. Es wär' sogar gut, wenn du zum Schein ein wenig mit der Nadel arbeiten tätest. Zu verdienen brauchst du nicht viel.«

»Und wenn man mich fängt?«

»Ich werde dir helfen auf jede Art, wenn du mich nicht angibst. Aber laß immer die Ware lieber fangen als dich. Ich weiß, daß Zusel viel lieber einmal die paar Taler weniger erben will.«

Dieser Schluß wirkte mehr als alles andere. Bald waren sie handelseins und reichten sich die Hände.

»Morgen kannst du etwas Geld haben«, rief der Krämer schon im Gehen. Jetzt war er in der besten Stimmung. Die Todesgedanken kamen nicht mehr; trotzdem aber suchte er einen[220] Alpweg, der über die Fluh hinaus und neben dem Liggstein gerade zur Kirche hinunterführte, um den gefährlichen Weg unter dem Felsen neben der Ach zu vermeiden. Vorzuwerfen übrigens hatte er sich nichts mehr. Hintergedanken hatte Hansjörg so gut als er, und mancher wohl wäre nicht imstande gewesen, so einem Grobian auch nur zum Scheine die Hand zu geben. Das war also überstanden, und in Zukunft wollte er denn doch etwas gewissenhafter vorgehen, besonders wenn einmal Zusel Stigbäuerin war.

Hansjörg kletterte mit tausend neuen Plänen und Hoffnungen zu seiner Ware, um da das Dunkel der Nacht zu erwarten. Am Tage darauf, es war ein Sonntag, predigte der Kaplan von den Pflichten der Arbeitgeber und Dienstboten, besonders von jungen Mädchen, die einer teuflischen, unvernünftigen Berechnung ihre Ehre und Tugend opferten. Der Prediger wollte nichts Verächtlicheres kennen, als wenn so ein magerer, blonder, blauäugiger Brocken so einer fetten Maus in die Falle gelegt werde.

Nach dem beinahe endlosen Vortrage sagte der Krämer ziemlich laut: »Man hätte Dorotheens schmutzige Wäsche doch nicht so auf die Kanzel bringen sollen.« Diese zarte Andeutung wäre nicht mehr nötig gewesen, da ohnehin schon fast alles nur an die Magd auf dem Stighofe dachte.

Quelle:
Franz Michael Felder: Reich und Arm, in: Sämtliche Werke. Band 3, Bregenz 1973, S. 206-221.
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