Drittes Kapitel.

[181] Was Sophien während ihres Zimmerarrestes begegnete.


Die Wirtin des Hauses, in welchem Herr Western Zimmer bezogen, hatte längst angefangen, von ihren Gästen eine seltsame Meinung zu hegen. Da sie gleichwohl erfahren hatte, daß der Junker ein Mann vom großem Vermögen wäre und sie auch besorgt gewesen war, sich ihre Zimmer übermäßig teuer bezahlen zu lassen, so hielt sie es nicht für diensam, gar zu voreilig zu sein. Denn ob ihr gleich die Einsperrung der armen Sophie ein wenig zu Herzen ging, von deren sanfter Gemütsart und Leutseligkeit die Hausmagd einen sehr günstigen Bericht erstattet hatte, welchen alle Bediente des Junkers bestätigten, so lag ihr doch ihr eigner Vorteil noch mehr am Herzen, um jemand vor den Kopf zu stoßen, von dem sie merkte, wie sie sagte, daß es ein großer Hastkopf von Herrn wäre.

Obgleich Sophie nur wenig aß, so wurden ihr doch ihre Mahlzeiten regelmäßig aufgetragen. Wirklich, glaube ich, hätte sie nach irgend einer Rarität gelüstet, der Junker, so erzürnt er über sie war, würde weder Mühe noch Kosten gespart haben, sie für sie aufzutreiben, weil er, so seltsam es auch einigen meiner Leser vorkommen mag, wirklich mit seinem ganzen Herzen an seiner Tochter hing und das größte Vergnügen seines Lebens darin fand, wenn er ihr irgend eine Freude machen konnte.

Als die Stunde zum Mittagessen herbeikam, trug ihr der schwarze Jakob eine Poularde hinauf, und der Junker selbst (denn er hatte geschworen, den Schlüssel nicht aus den Händen zu geben) blieb vor der Thüre stehen. Als Jakob die Schüssel aufsetzte, fielen einige Komplimente zwischen ihm und Sophie vor, denn er hatte sie nicht gesehen, seitdem sie das Landgut verlassen hatte, und sie begegnete jedem Bedienten mit mehr Achtung, als manche Leute solchen Personen begegnen, die nur um ein weniges geringer sind als sie selbst. Sophie wollte anfangs, er sollte die Poularde nur wieder mit hinunternehmen, weil sie nicht essen möchte, Jakob aber bat, sie möchte doch nur ein wenig kosten, und vorzüglich rühmte er ihr die Eier, womit, wie er sagte, die Poularde gefüllt wäre.

Diese ganze Zeit über wartete der Junker an der Thüre; indessen stand Jakob bei seinem Herrn in großen Gunsten, weil seine Verrichtungen in das wichtigste Fach einschlugen, in die Jagd nämlich, und daher war er gewohnt, sich manche Freiheit herauszunehmen. Er hatte sich dazu gedrängt, das Essen hinaufzutragen, weil er, wie er sagte, ein großes Verlangen trüge, seine junge Herrschaft einmal wiederzusehen, er machte sich sonach kein Gewissen daraus, seinen Herrn über zehn Minuten an der Thüre warten zu lassen, die über die Komplimente zwischen ihm und Sophie hingingen, worüber er bloß einen freundlichen Ausputzer an der Thüre erhielt, als er wieder herauskam.

Hühner-, Fasanen- und Kibitzeier und dergleichen waren, wie Jakob wohl wußte, Sophiens Lieblingsessen. Es war deshalb kein[182] Wunder, daß dieser gutmütige Mensch besorgt gewesen war, ihr diese Art von Leibgericht zu einer Zeit zu verschaffen, da alles Gesinde im Hause fürchtete, sie würde sich zu Tode hungern, denn in den letzten vierzig Stunden hatte sie kaum einen einzigen Bissen zu sich genommen.

Obgleich der Gram nicht auf alle Menschen eben die Wirkung thut, wie er gewöhnlich auf eine Witwe zu thun pflegt, deren Appetit er oft mehr schärft als die zehrendste Land- und Seeluft, so muß doch am Ende, man mag auch dagegen sagen was man will, der empfindsamste Kummer einmal essen. Und selbst Sophie begann nach einigem wenigen Bedenken die Poularde zu zerlegen, welche sie wirklich so voller Eier fand, als Jakob versichert hatte.

War ihr aber dieses nicht unangenehm, so enthielt sie auch noch etwas, was einer königlichen Akademie der Wissenschaften eine weit größere Freude gemacht haben würde, denn wenn schon ein Vogel mit drei Beinen eine so unschätzbare Seltenheit ist, da doch die Zeit dergleichen vielleicht tausend hervorgebracht hat; was für einen Wert muß denn ein Vogel haben, welcher allen Gesetzen der animalischen Oekonomie so schnurstracks widerspricht, daß er in seinen Eingeweiden einen Brief enthält! Ovid erzählt von einer Blume, in welche Hyacinthus verwandelt wurde, auf deren Blättern Buchstaben befindlich sind, welche Virgil der königlichen Akademie der Wissenschaften seiner Zeit als ein Wunderwerk empfahl, aber kein Zeitalter und keine Nation hat in der Geschichte einen Vogel aufzuweisen, in dessen Eingeweiden man einen Brief gefunden hätte.

Allein obgleich eine Seltenheit von dieser Art alle Akademien der Wissenschaften in ganz Europa in Bewegung gesetzt haben möchte, ihre vielleicht unnützen Untersuchungen anzustellen, so wird doch unser Leser durch bloße Erinnerung an das Gespräch, das am Ende des vorigen Buchs zwischen den Herren Jones und Rebhuhn vorfiel, sehr leicht erraten, woher dieser Brief kam und wie er seinen Weg in diese Poularde gefunden habe.

Sophie, ungeachtet ihrer langen Fasten und ungeachtet ihr liebstes Gericht vor ihr auf dem Tische stand, ersah nicht so bald den Brief, als sie ihn eilig erhaschte, aufriß und las wie folgt:


»Wüßte ich nicht recht gut, mein teuerstes Fräulein, an wen ich die Ehre habe zu schreiben, so würde ich streben, was für Mühe mich's auch kosten möchte, den entsetzlichen Zustand zu schildern, in welchen meine Seele durch die Nachricht versetzt worden, die mir Ihre Kammerjungfer hinterbracht hat. Aber da nur allein die zärtlichste Seele sich einen richtigen Begriff von den Qualen machen kann, welche eine wahrhaft zärtliche Seele zu fühlen vermag, so kann meine Sophie, welche vom Himmel eine höchst zärtliche Seele erhielt, sich leicht und hinlänglich vorstellen, was ihr Jones bei dieser so traurigen Veranlassung empfunden haben muß. Ist noch wohl irgend ein Umstand in der Welt, welcher meine Schmerzen vermehren kann, wenn ich von Widerwärtigkeiten höre, die Sie betroffen haben? Ja gewiß gibt es einen einzigen, und auch der hat mich wie ein Fluch befallen. Vielleicht erweise ich mir hier[183] selbst zu viel Ehre, aber kein Mensch auf Erden wird mir eine Ehre beneiden, die mir so außerordentlich teuer zu stehen kommt. Verzeihen Sie mir diese Anmaßung und verzeihen Sie mir die noch größere, wenn ich mich unterfange zu fragen, ob mein Rat, mein Beistand, meine Gegenwart, meine Entfernung, mein Tod oder meine Qualen Ihnen die geringste Erleichterung schaffen können? Kann die vollkommenste Bewunderung, die aufmerksamste Gefälligkeit, die feurigste Liebe, die herzinnigste Zärtlichkeit, die unumschränkteste Ergebung in Ihren Willen, Ihnen Ersatz für alles das sein, was Sie meiner Glückseligkeit aufopfern müßten? Können Sie es, so fliegen Sie, meine ewig einzig Geliebte, in diese Arme, welche beständig ausgestreckt sind Sie zu empfangen und zu beschützen. Kommen Sie! Kommen Sie! Ob allein oder mit allen Reichtümern der Welt, das ist für mich kein Unterschied, der nur eines Gedankens wert wäre. Soll aber hingegen bloß die Weisheit gebieten, und sagt Ihnen diese nach der reiflichsten Ueberlegung, das Opfer sei zu groß – – sehn Sie keinen andern Weg übrig, sich mit Ihrem Herrn Vater auszusöhnen und die Ruhe Ihres mir so teuren Herzens herzustellen, als wenn Sie mir entsagen, so, ich beschwöre Sie, vertilgen Sie mich auf ewig aus Ihrem Gedächtnis, fassen Sie einen mutigen Entschluß und lassen Sie das Mitleiden mit meinem Kummer in Ihrer zarten Brust verstummen. Glauben Sie mir, himmlisches Mädchen, ich liebe Sie so aufrichtiglich mehr als mich selbst, daß mein großer, einziger Endzweck auf Ihre Glückseligkeit gerichtet ist. Mein erster Wunsch (O, daß das Schicksal ihn mir nicht gönnen will!) war, und verzeihen Sie mir, daß ich's sage, ist noch, Sie jeden Augenblick als die glücklichste Frau zu sehen; mein zweiter Wunsch ist, zu hören, daß Sie es sind. Kein Wehe aber reicht an das meinige, solange ich denken muß, Sie haben auch nur einen unruhigen Augenblick demjenigen zuzuschreiben, welcher ist und ewig bleibt

Teuerstes Fräulein

in jedem Sinn und zu jeder Bestimmung

Ihr eigenster Thomas Jones


Was Sophie sagte oder that, oder was sie von diesem Briefe dachte, ob sie ihn mehr als einmal las, oder wie oft, das alles wollen wir der Einbildung des Lesers überlassen. Die Antwort darauf bekommt er vielleicht noch einst zu sehen, nur jetzt nicht; unter andern Ursachen auch wegen dieser, daß sie für jetzt keine schrieb, und auch dies hatte seine guten Gründe, von denen einer war, daß sie weder Papier, Feder noch Tinte hatte.

Des Abends, als Sophie saß und über den Brief nachdachte, den sie empfangen hatte, oder auch vielleicht über etwas andres, störte sie ein heftiges Gelärm, das von unten herauf erscholl, in ihren Betrachtungen. Dieser Lärm war nichts mehr und nichts weniger als ein tüchtiger Haderkampf zwischen zwei Personen. Eine von den streitenden Parteien erkannte sie sehr bald an der Stimme für ihren Vater. Sie bemerkte aber nicht sogleich, daß die Oberquinte eine Pfeife aus der Orgel ihrer gnädigen Tante von Western wäre, welche eben in der Stadt angelangt und von einem ihrer[184] Bedienten, welcher an den Herkulessäulen vorgesprochen, erfahren hatte, wo ihr Bruder wohnte, und also geradeswegs vor seiner Thüre angefahren war.

Wir wollen uns sonach für jetzt bei Sophie beurlauben und nach unsrer gewöhnlichen guten Lebensart bei Ihro Gnaden, Fräulein von Western, unsre Aufwartung machen.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 181-185.
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