Viertes Kapitel.

[223] Ein außerordentlicher Auftritt zwischen Sophie und ihrer Tante.


Die muhende Stärke und das blökende Schaf in Herden und Tristen, können ungestört und unbemerkt über Anger, Wiese und Weiden ziehen. Sie sind freilich am Ende für die Schlachtbank bestimmt; doch läßt man sie manches Jahr ihre Freiheit sicher genießen. Entdeckt man aber ein feist-glattes Schmaltier, das den Forst verlassen und sich in einem Felde oder Busche niedergethan hat, gleich ist das ganze Kirchspiel im Auflauf, jedermann ist mit seinen Hunden zum anhetzen bereit, und wenn es der gute Edelmann vor den übrigen schirmt, so thut er's nur, um es für seinen eignen Mund zu sparen.

Oft habe ich bemerkt, daß ein junges Frauenzimmer von Reichtum und Ansehn, wenn es zum erstenmale aus seinem Ammenpferch gelassen befunden ward, sich so ungefähr in einerlei Umständen mit[223] diesem Schmaltiere befand. Die Stadt ist den Augenblick im Aufruhr; ihr wird nachgejagt von der Promenade zum Schauspiele, vom Hofe zur Assemblee, von der Assemblee bis zu ihrem Gemache, und sehr selten entflieht sie nur eine Jahreszeit dem Rachen eines oder des andern Rüden. Denn wenn ihre Freunde sie vor einigen beschützen, so geschieht es bloß, um sie einem andern nach ihrer eignen Wahl zu übergeben, der ihr oft noch unangenehmer ist, als einer von allen den Uebrigen. Unterdessen gehen ganze Herden und Triften von andern Frauenzimmern sicher umher, werden kaum bemerkt, wandern frei durch die Promenaden, Opern und Komödienhäuser, Kaffee-, Thee- und Spielgesellschaften, und ob sie gleich, die meisten wenigstens, am Ende ebenfalls verschlungen werden, so treiben sie doch eine lange Zeit erst ihren Mutwillen in Freiheit, ohne Zwang und Einschränkung.

Von allen jenen raren Jagdstücken erduldete keines mehr von dieser Verfolgung, als die arme Sophie. Ihr feindseliges Gestirn, nicht zufrieden mit alledem, was sie Blifils wegen erlitten hatte, erweckte ihr jetzt einen neuen Verfolger, der darnach aussah, daß er sie nicht weniger quälen würde, als der andre vielleicht gethan hatte; denn obwohl ihre Tante nicht so heftig verfuhr, so war sie doch ebenso emsig und anhaltend im Placken und Plagen, als ihr Vater vorhin gewesen war.

Die Bedienten waren nach dem Mittagessen nicht so bald fortgegangen, als die gnädige Tante von Western, welche Sophien die Sache angebracht hatte, ihr die Nachricht gab, sie erwarte den Grafen noch denselben Nachmittag, und wäre gesonnen, die erste Veranlassung wahrzunehmen, um sie mit ihm allein zu lassen. »Wenn Sie das thun, ma Tante,« antwortete Sophie, »so nehm' ich die erste Veranlassung wahr, ihn ganz allein zu lassen!« – »Wie, gnädiges Fräulein!« rief die Tante, »ist dies der Dank für meine Güte, daß ich Sie aus der Gefangenschaft in Ihres Vaters Hause befreit habe?« – »Gnädigste Tante,« sagte Sophie, »Sie wissen, die Ursache dieser Gefangenschaft war eine Weigerung, den Willen meines Vaters zu thun und einen Mann anzunehmen, den ich verabscheute, und wollte wohl meine liebste Tante, die mich aus dieser Not gerettet hat, mich in eine andre versetzen, die ebenso schlimm wäre?« – »Und meinen denn das gnädige Fräulein,« antwortete die ungnädige Tante, »daß zwischen dem Hochgebornen Herrn Grafen und dem Strohjunker von Blifil kein Unterschied sei?« – »Nach meiner Meinung nur ein sehr geringer,« versetzte Sophie, »und wenn ich dazu verdammt wäre, einen von beiden wählen zu müssen, so würde ich mir gewiß das Verdienst machen, mich dem Gutbefinden meines Vaters aufzuopfern.« – »Also seh' ich wohl,« sagte die Tante, »hat mein Gutbefinden bei dem gnädigen Fräulein nur sehr wenig Gewicht! Doch die Betrachtung soll mich nicht irre machen. Ich handle nach noblern Grundsätzen. Die Rücksicht auf die Erhöhung meiner Familie, und dich selbst weiter zu annobilitieren, ist es, die mich in Thätigkeit setzt. Hast du denn gar keinen Sinn für die Ambition? Liegt kein Reiz in dem Gedanken, eine Grafenkrone[224] an deiner Karosse zu führen?« – »Nicht im geringsten, auf meine Ehre!« sagte Sophie. »Ein Nadelkissen an meiner Kutsche würde mir grade ebenso lieb sein.« – »Sprich mir das Wort Ehre nicht wieder aus!« schrie die Tante. »Es schickt sich sehr schlecht in dem Munde einer solchen niedrigen Dirne. Es thut mir leid, Niece, daß du mich zu dergleichen Worten zwingst, aber ich kann deine kriechende Denkungsart nicht ausstehn; du hast kein Blut von den edlen von Westerns in deinen Adern. Aber deine eignen Gedanken mögen so niedrig und kriechend sein, als sie wollen, so sollst du mir keinen Vorwurf über die meinigen zuziehen. Soweit werd' ich's nicht kommen lassen, daß die Welt von mir sagen könnte, ich hätte dir den Mut gemacht, eine der besten Partien im Reiche auszuschlagen. Eine Partie, welche außer den Vorteilen in Ansehung des Vermögens, fast einer jeden Familie Ehre machen würde, und in Ansehung des Ranges wirklich einen so großen Vorzug vor der unsrigen hat.« – »Sicherlich,« sagte Sophie, »ich muß fehlerhaft geboren sein und nicht alle die Sinne empfangen haben, womit andre Menschen begabt sind. Es muß ohne Zweifel einen Sinn geben, welcher Vergnügen an leerem Schall und Schein genießen kann, und den ich nicht habe, denn sonst wäre nicht begreiflich, wie die Menschen nach Dingen so heftig streben, ihrer Erlangung soviel aufopfern, über ihren Besitz so stolz und aufgeblasen sein könnten, wenn ihnen solche, ebenso wie mir, als die unbedeutendsten Kleinigkeiten vorkämen.«

»Nein, mein kleines Fräulein,« rief die Tante, »Sie sind mit ebensoviel Sinnen geboren, als andre Leute, aber was ich dich versichern kann, ist, du bist nicht mit Verstand genug geboren, mich zum besten zu haben, oder mein Benehmen vor der Welt lächerlich zu machen. Und also betheur' ich dir hiermit auf mein Wort (und ich meine, du wissest wie standhaft ich in meinen Entschließungen bin), wofern es dir nicht beliebt, heute Nachmittag den Grafen allein zu sprechen, so übergebe ich dich alsobald morgen früh mit meinen eignen Händen deinem Vater, und will hinfüro nicht das geringste mit dir weiter zu schaffen haben, oder dein Angesicht jemals wiedersehn.« Sophie stand nach dieser Rede, welche in einem sehr zornigen und entscheidenden Tone ausgesprochen wurde, in einem tiefen Stillschweigen, und dann sagte sie mit über die Wangen rollenden Thränen: »Thun Sie mit mir was Ihnen beliebt, meine gnädigste Tante! Ich bin das unglücklichste, elendeste Mädchen auf Erden; wenn meine teure Tante mich verläßt, wo soll ich dann einen Beschützer hernehmen?«

»Ma chère Nièce,« sagte sie, »du wirst einen guten Beschützer an dem Grafen haben, einen Beschützer, den dich nichts in der Welt ausschlagen lassen kann, als die fatale Sehnsucht nach dem schändlichen Kerl, dem Jones.« – »In Wahrheit gnädige Tante,« sagte Sophie, »Sie thun mir Unrecht! Wie können Sie sich nur einbilden, daß ich, nach dem was Sie mir gezeigt haben, alle dergleichen Gedanken, hätte ich sie auch ehedem gehegt, nicht auf ewig verbannt haben sollte? Wenn es Sie zufrieden stellen kann, so will ich das[225] heilige Sakrament drauf nehmen, sein Angesicht niemals wieder zu sehn.« – »Aber Kind, liebstes Kind!« sagte die Tante, »sei doch vernünftig; kannst du nur eine Einwendung erfinden?«

»Ich habe Ihnen ja schon, denke ich, eine hinlängliche Einwendung gesagt,« antwortete Sophie. – »Welche denn?« rief die Tante, »ich erinnere mich keiner.« – »Ich habe Ihnen doch gewiß gesagt, gnädige Tante,« sagte Sophie, »daß er mich auf die gröbste und schändlichste Art behandelt hat.« »In der That, Kind,« antwortete sie, »das habe ich niemals gehört, oder doch nicht verstanden. Aber was willst du denn mit einer gröbsten und schändlichsten Art eigentlich sagen?« – »In Wahrheit, teuerste Tante,« sagte Sophie, »ich schäme mich fast, es Ihnen zu erzählen. Er faßte mich in seine Arme, zerrte mich auf die Ottomane, fuhr mit seiner Hand in meinen Busen und küßte ihn mit solcher Heftigkeit, daß ich davon noch bis auf diesen Augenblick das Merkmal auf meiner linken Brust trage.« – »Wirklich?« sagte Tante von Western. »Ja wirklich, gnädige Tante!« antwortete Sophie. »Mein Vater trat zu allem Glück in eben dem Augenblick ins Zimmer, sonst weiß der Himmel, was für unverschämte Grobheiten er sonst noch unternommen haben wurde.« – »Du setzest mich in Erstaunen und Verwirrung!« rief die Tante. »Keinem Frauenzimmer, das den Namen Western führt, ist jemals so begegnet worden, seitdem wir eine Familie sind. Einem Prinzen hätte ich die Augen ausgekratzt, wenn er sich solche Freiheiten gegen mich hätte herausnehmen wollen. Es ist unmöglich! Gewiß, Sophie, das mußt du erfunden haben, um mich gegen ihn aufzubringen.« – »Ich hoffe,« sagte Sophie, »gnädige Tante haben eine bessere Meinung von mir, um mich für fähig zu halten eine Unwahrheit zu sagen. Bei meiner Seele kann ich es Ihnen zuschwören, es ist wahr!« – »Ich hätte ihm das Herz durchstoßen, wenn ich dabei gewesen wäre,« erwiderte die Tante. »Aber sicherlich konnte er doch keine unehrliche Absicht haben, das ist unmöglich, das konnte er sich nicht unterstehn; überdem zeigen es seine Vorschläge, daß er keine hatte, denn die sind nicht nur ehrlich gemeint, sondern sehr großmütig noch dazu. Ich weiß nicht was ich denken soll! Unsere Zeiten sind gar zu frei. Einen ehrfurchtsvollen Handkuß hätte ich höchstens vor der Trauung erlauben können. Ich habe ehemals Liebhaber gehabt, und es ist so lange eben noch nicht her! Verschiedene Liebhaber, ob ich mich gleich niemals habe entschließen können zu heiraten! Aber die allergeringste Freiheit hätte ich niemals verstattet. Es ist eine sehr närrische Gewohnheit, die ich niemals hätte mitmachen mögen. Keine Mannsperson hat jemals etwas mehr von mir geküßt, als meine Wangen. Es ist schon genug in der Welt, daß man einem Ehemann die Lippen geben muß, und in der That, hätte ich jemals dahin gebracht werden können, mich zu verheiraten, ich glaube, es würde sehr lange gedauert haben, ehe mich mein Gemahl bis dahin gebracht hätte.« – »Sie werden mir es verzeihen, meine gnädigste Tante,« sagte Sophie, »wenn ich eine Anmerkung mache; Sie gestehen, daß Sie manche Liebhaber gehabt haben, und die Welt weiß es, wenn Sie es auch gleich selbst leugnen wollten. Sie schlugen sie alle aus, und[226] ich bin doch überzeugt, daß wenigstens einer mit einer Grafenkrone darunter war.« – »Du hast ganz recht, meine teuerste Sophie!« antwortete sie, »mir ward einst ein Graf angetragen.« – »Nun denn,« sagte Sophie, »warum wollen Sie mir nicht erlauben, daß ich nur dies eine Mal nein sage?« – »Es ist wohl wahr, liebes Kind,« sagte sie, »daß ich den Antrag eines Grafen ausgeschlagen habe, aber es war kein so guter Antrag, das heißt, zu sagen, ein so sehr, sehr guter Antrag.« – »Sei es! gnädige Tante,« sagte Sophie. »Aber Ihnen sind auch sehr große Vorschläge geschehen, von Männern von sehr vielem Vermögen. Es war nicht der erste, nicht der zweite, noch der dritte vorteilhafte Vorschlag, der Ihnen angetragen wurde.« – »Ich muß gestehen,« sagte sie, »das war es nicht!« – »Nun gut! gnädige Tante,« fuhr Sophie fort, »warum soll ich denn nicht erwarten dürfen, daß mir noch ein zweiter und vielleicht vorteilhafterer angeboten würde, als dieser? Sie sind noch eine junge Dame, und ich bin versichert, Sie würden nicht versprechen, gleich dem ersten Liebhaber der käme, die Hand zu geben, und wenn er auch sehr reich wäre, und von noch so hohem Rang und Titel dazu. Ich bin ein sehr junges Mädchen und habe gewiß immer auch noch Hoffnung.« – »Nun wohl, meine liebe, liebe Sophie,« sagte die Tante, »was soll ich dir sagen, was willst du?« – »Alles, was ich bitte ist, daß ich mit dem Grafen nicht allein gelassen werden soll, zum wenigsten nur heute Abend nicht. Bewilligen Sie mir das, so unterwerfe ich mich, wenn Sie dafür halten, daß es nach dem was vorgefallen ist, noch schicklich sei, ihn in Ihrem Beisein zu sehn.« – »Gut, ich will das bewilligen!« sagte die Tante. »Sophie, Sophie! du weißt daß ich dich lieb habe und dir nichts abschlagen kann, du weißt wie leicht ich von Natur zu erbitten bin. Ich bin nicht immer so leicht zu erbitten gewesen, ich bin vordem für grausam gehalten worden, von den Mannspersonen, meine ich; sie hießen mich die grausame Parthenissa. Ich habe manche Fensterscheibe entzwei geschlagen, worauf Verse an die grausame Parthenissa geschrieben standen. Mein liebes Sophiechen! ich bin niemals so schön gewesen als du; aber doch hatte ich vordem eine Aehnlichkeit mit dir. Ich bin ein wenig verändert. Königreiche und Staaten leiden Veränderungen, wie Tullius Cicero in seinen Episteln sagt; so müssen sich ja die menschlichen Gestalten auch wohl verändern.« – Auf diese Art schwatzte sie fort, beinahe eine halbe Stunde, über ihre Person, über ihre Eroberungen und über ihre Grausamkeit bis zur Ankunft des Grafen, welcher nach einem sehr langweiligen Besuche, währenddessen das alte Fräulein von Western nicht einmal Miene machte, als ob sie weggehn wollte, sich wieder wegbegab, ebensowenig erbaut von der Tante, als von der Nichte; denn Sophie hatte ihre Tante in eine so vortreffliche Stimmung gesetzt, daß sie fast in alles willigte, was ihre Nichte begehrte, und der Meinung ward, ein zurückhaltendes Betragen möchte gegen einen so zudringlichen Liebhaber nicht ganz undiensam sein.

Sonach hatte Sophie durch ein wenig wohlangebrachte Schmeichelei, worüber sie gewiß niemand tadeln wird, ein wenig Ruhe für[227] sich selbst erhalten, und zum wenigsten das böse Stündlein verschoben. Und nachdem wir nunmehr unsre Heldin in einer bessern Lage gesehen haben, als sie bis dahin seit langer Zeit gewesen ist, wollen wir uns auch ein wenig nach dem Herrn Jones umsehen, den wir in den allerkläglichsten Umständen verlassen haben, die man nur erdenken kann.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 223-228.
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