Viertes Kapitel.

[102] Welches, wie wir hoffen, von jungen Leuten beiderlei Geschlechts mit großer Aufmerksamkeit gelesen werden soll.


Rebhuhn hatte Herrn Jones nicht so bald verlassen, als Herr Nachtigall, mit welchem er einen vertrauten Umgang angefangen hatte, zu ihm kam und nach einer kurzen Begrüßung sagte: »So, Jones, ich höre, Sie haben vorige Nacht sehr spät noch Gesellschaft[102] gehabt? Bei meiner Seele! Sie sind ein rechtes Glückskind! Kaum sind Sie erst vierzehn Tage in der Stadt und lassen schon die Sänften des Morgens bis zwei Uhr vor der Thüre halten!« Hierauf brachte er noch viele Alltagsscherze von eben der Art zu Markte, bis ihn endlich Jones unterbrach und sagte: »Wie ich vermute, haben Sie alle diese Nachrichten von Madame Miller gehört, welche vor einer Weile heraufgekommen ist, mir die Zimmer aufzukündigen. Die gute Frau ist, wie es scheint, ängstlich, daß ihr Haus in üblen Ruf kommen möchte.« – »O,« sagte Nachtigall, »in diesem Punkt nimmt sie's entsetzlich genau. Sie erinnern sich ja noch wohl, daß sie die Nette nicht einmal mit uns nach der Maskerade gehn lassen wollte.« – »Nun, auf meine Ehre,« sagte Jones, »ich denke, darin hatte sie recht. Unterdessen habe ich ihre Aufkündigung angenommen und habe Rebhuhn hingeschickt, ein ander Quartier zu suchen.« – »Wenn Sie wollen,« sagte Nachtigall, »so glaube ich, können wir wieder zusammenziehn, denn ich will Ihnen ein Geheimnis sagen, – aber ich bitte, daß Sie sich ja im Hause gegen niemand etwas davon merken lassen, – ich bin willens, das Haus noch heute zu verlassen.« – »Wie, Freund, hat Ihnen Madame Miller ebenfalls aufgekündigt?« rief Jones. – »Nein!« antwortete der andere, »aber die Zimmer sind mir nicht bequem genug. Ueberdem bin ich dieser Gegend in der Stadt müde geworden. Ich will näher nach der Gegend ziehn, wo häufiger Zeitvertreib ist, deswegen zieh' ich nach Pallmall.« – »Sind Sie denn gesonnen, heute noch auszuziehn?« sagte Jones. – »Verlassen Sie sich drauf,« antwortete Nachtigall, »daß ich nicht willens bin, die Wirtin um die Miete zu prellen; aber ich habe meine geheimen Ursachen, warum ich nicht förmlich Abschied nehmen mag.« – »Nun, nicht gar zu geheime!« versetzte Jones. »Ich versichre Sie, ich habe sie gesehn gleich des andern Tags, da ich ins Haus gekommen war. Es wird hier nasse Augen geben, wenn Sie weg sind! – Die arme Nette! ich bedaure sie, wahrhaftig. Wirklich, Jakob, Sie haben das Mädchen zum Narren gehabt! Sie haben ihr ein Fieber beigebracht, wovon sie, wie ich fürchte, kein Arzt wird heilen können.« – Nachtigall antwortete: »Was zum Henker wollen Sie, das ich thun soll? Wollten Sie wohl, daß ich sie heiratete, um sie zu kurieren?« – »Nein,« antwortete Jones; »aber ich wollte, Sie hätten ihr nichts von Liebe vorgesagt, wie Sie oft in meiner Gegenwart gethan haben. Ich habe mich höchlich gewundert über die Blindheit der Mutter, daß die es niemals gesehn hat.« – »Pah, sehn!« rief Nachtigall. »Was Henker sollte sie sehn?« – »Nun sehn,« sagte Jones, »daß Sie ihre Tochter bis zum Rasen in Sie verliebt gemacht haben. Das arme Mädchen kann es keinen Augenblick verbergen: sie kann kein Auge von Ihnen wenden und verändert allemal die Farbe, wenn Sie ins Zimmer treten. In der That, ich bedaure sie von Herzen, denn sie scheint eins der gutmütigsten und redlichsten Geschöpfe Gottes zu sein.« – »Und also,« antwortete Nachtigall, »müßte einer nach Ihrer Sittenlehre sich niemals die geringste gewöhnliche Galanterie zum Zeitvertreibe beim Frauenzimmer erlauben aus[103] Furcht, sie möchte sich in ihn verlieben?« – »Wirklich, Jakob,« sagte Jones, »Sie wollen mich mit Fleiß nicht verstehen! Ich bilde mir nicht ein, daß das Frauenzimmer so allezeit fertig sei, sich in uns zu verlieben, aber Sie sind weit über die gewöhnliche Galanterie hinausgegangen.« – »Was?« sagte Nachtigall. »Meinen Sie etwa, wir wären mit einander zu Bett gegangen?« – »Nein, das mein' ich auf meine Ehr' nicht!« antwortete Jones sehr ernsthaft. »Eine so schlechte Meinung habe ich nicht von Ihnen; ja ich will noch weiter gehn, ich kann mir nicht einbilden, daß Sie einen ordentlich vorher bedachten, überlegten Plan gemacht haben, die Ruhe dieses kleinen Geschöpfs zu untergraben, oder daß Sie nur die Folgen bedacht haben, denn ich bin gewiß, du bist ein gutmütiger Kerl, und ein solcher kann sich eine dergleichen Grausamkeit nicht beigehen lassen, sondern du hast nur deiner Eitelkeit schmeicheln wollen und nicht überlegt, daß dies arme Mädchen das Opfer davon sein würde; und indessen, daß Sie keine andre Absicht hatten, als eine leere Stunde angenehm hinzubringen, haben Sie ihr wirklich Ursache gegeben, sich zu schmeicheln, daß Sie die ernsthaftesten Absichten auf sie hätten. Ich bitte dich, Jakob, antworte mir ehrlich, wohin zielten alle jene glatten, überzuckerten Beschreibungen von Glückseligkeit, die aus einer heftigen gegenseitigen Zärtlichkeit entspringen? Wohin diese warmen Aeußerungen von weicher Empfindsamkeit, von großmütiger, uneigennütziger Liebe? Meinten Sie nicht, daß sie solche auf sich anwenden würde oder offen herauszusagen, war es nicht Ihre Absicht, daß sie es thun sollte?« – »Bei meiner Seele, Thomas,« rief Nachtigall, »das hätt' ich hinter dir nicht gesucht. Du wirst einmal ein vortrefflicher Prediger werden. Auf diese Art soll ich wohl glauben, du würdest nicht einmal mit Nettchen zu Bett gehen, wenn sie's auch wohl haben wollte?« – »Nein!« sagte Jones, »ich will verdammt sein, wenn ich das wollte!« – »Thomas, Thomas,« antwortete Nachtigall, »die vorige Nacht! denk' an die vorige Nacht!«


»When every Eye was clos'd, and the pale Moon

And silent Stars shone conscious of the Theft.«


»Als jedes Auge

Geschlossen war und nur der blasse Mond,

Die stillen Sterne deinen Diebstahl sahn.«


»Nun, sehen Sie, Herr Nachtigall,« erwiderte Jones, »ich bin kein frömmelnder Heuchler und mache keinen größern Anspruch auf Enthaltsamkeit als meine Nachbarn. Ich bin im Punkt der Weiber nicht unschuldig; aber das bin ich mir nicht bewußt, daß ich jemals eine Person verführt hätte – und möchte auch nicht, um meinen Sinnen ein Vergnügen zu verschaffen, wissentlich schuld an dem Elende irgend eines menschlichen Geschöpfes sein.«

»Gut, gut!« sagte Nachtigall. »Ich glaube Ihnen und bin überzeugt, daß Sie auch mich von allen dergleichen Dingen frei sprechen.«

»Das thu' ich von Herzen,« antwortete Jones, »davon nämlich,[104] daß Sie das Mädchen nicht entehrt haben, aber nicht davon, daß Sie sich in ihr Herz eingeschlichen haben.«

»Wenn ich das gethan habe,« sagte Nachtigall, »so ist mir's herzlich leid! Aber Zeit und Abwesenheit werden solche Eindrücke bald auslöschen. Das ist ein Rezept, das ich auch mir verschreiben muß; denn um Ihnen die Wahrheit zu gestehen – in meinem Leben hab' ich noch kein Mädchen nur halb so lieb gehabt als dieses; aber ich muß Sie nur mit dem ganzen Geheimnis bekannt machen, Thomas. Mein Vater hat für mich eine Heirat ausgemacht mit einem Mädchen, das ich nie gesehen habe, und das jetzt in die Stadt kommen wird, um sich von mir die gehörigen Anwerbungen thun zu lassen.«

Bei diesen Worten brach Jones in ein lautes Gelächter aus, wobei Nachtigall schrie: »Nein, ich bitte dich, lache nicht über mich! Der Teufel hol' mich, wenn ich nicht ohnedies schon halb unsinnig darüber bin! Mein armes Nettchen! O Jones, Jones! Besäß' ich doch nur eignes Vermögen!«

»Das wünscht' ich Ihnen von Herzen,« sagte Jones; »denn wenn es da hinkt, so bedaur' ich euch aufrichtig alle beide! Aber Sie werden doch bei alledem nicht willens sein, so fortzugehn, ohne von ihr Abschied zu nehmen?«

»Um zehntausend Pfund,« antwortete Nachtigall, »möcht' ich mich der Qual nicht aussetzen, von ihr Abschied zu nehmen. Außerdem bin ich überzeugt, es würde nichts gutes wirken, es würde nur dazu dienen, mein armes Nettchen zu peinigen. Ich bitte demnach, nur heute sich davon kein Wort entfallen zu lassen, und heute abend oder morgen früh bin ich willens fortzugehen.«

Jones versprach zu schweigen und sagte: Nach reifer Ueberlegung glaubte er, da er doch entschlossen und genötigt wäre, sie zu verlassen, wäre dies die vorsichtigste Art und Weise. Er sagte drauf dem Herrn Nachtigall, es würde ihm sehr lieb sein, mit ihm in Einem Hause zu wohnen, und demzufolge wurden sie darüber eins, daß Nachtigall ihm entweder den untersten oder den dritten Stock mieten sollte; denn dieser junge Herr hatte den zweiten für sich selbst gemietet.

Dieser Herr Nachtigall, von dem wir nächstens genötigt sein werden etwas mehr zu sagen, war bei den gewöhnlichen Vorfallenheiten des Lebens ein Mann von strenger Ehre und, was unter den jungen Stutzern in Städten noch seltner ist, ein Mann von biederer Redlichkeit. In Liebeshändeln aber war er von etwas lockerer Moral. Nicht daß er so völlig ohne alle Grundsätze gewesen wäre, als die jungen Herren zuweilen sind und noch öfter scheinen wollen; aber gewiß ist es, daß er sich einige nicht zu entschuldigende Verrätereien gegen das weibliche Geschlecht erlaubt und in einem gewissen Handel, genannt Liebesgeschäfte, solche Kniffe ausgeübt hatte, die man, wenn er sich derselben bei einem Geld- oder Warengeschäfte bedient hätte, als die größte Schurkerei auf Gottes Erdboden angesehen haben würde.

Allein da die Welt, aus was für Ursachen begreif' ich nicht so[105] eigentlich, darüber einig geworden ist, solche Betrügereien in einem bessern Lichte zu betrachten, so war er soweit davon entfernt, sich dieser Bübereien zu schämen, daß er sich vielmehr damit breit machte und sich oft seiner Geschicklichkeit bei Frauenzimmern und der Eroberung ihrer Herzen zu rühmen pflegte, worüber ihm Jones schon lange vorher einige Verweise gegeben hatte, der beständig eine große Bitterkeit gegen schlechtes Verfahren mit dem schönen Geschlechte blicken ließ und zu sagen pflegte: Wenn man, wie man eigentlich sollte, Frauenzimmer in dem Gesichtspunkte teurer Freundinnen betrachtete, müßte man mit der äußersten Liebe und Zärtlichkeit mit ihnen umgehen, sie in Ehren halten und sie liebkosen. Betrachtete man sie aber als Feindinnen, so wären es Eroberungen, deren sich ein Mann vielmehr zu schämen als zu rühmen hätte.

Quelle:
Fielding, Henry: Tom Jones oder die Geschichte eines Findelkindes. Stuttgart [1883], Band 3, S. 102-106.
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