Erstes Kapitel
Eintritt ins Regiment. Auf Königswache. Urlaub nach England

[125] Die drei Bataillone des Kaiser-Franz-Regiments lagen damals in drei verschiedenen Kasernen: das erste Bataillon unter Vogel von Falckenstein in der Kommandantenstraße, das Füsilier-Bataillon unter Major von Arnim in der Alexanderstraße, das zweite Bataillon unter Major von Wnuck in der Neuen Friedrichsstraße. Regimentskommandeur war Oberst von Hirschfeld, Sohn des noch aus der friderizianischen Zeit stammenden Generals Karl Friedrich von Hirschfeld, der am 27. August 1813 das als »Landwehrschlacht« berühmt gewordene Treffen bei Hagelsberg siegreich führte, und Bruder des Generals Moritz von Hirschfeld, der von 1809 bis 1815 in Spanien gegen Napoleon focht – später kommandierender General des achten Armeekorps – und über seine spanischen Erlebnisse sehr interessante Aufzeichnungen hinterlassen hat.

Ich war dem zweiten Bataillon, Neue Friedrichsstraße, zugeteilt worden und meldete mich bei Major von Wnuck, einem alten Kampagnesoldaten von Anno 13 her. Er nahm meine Meldung freundlich entgegen und kam dabei gleich auf die Unteroffiziere zu sprechen. »Und wenn einer sich einen Übergriff erlauben sollte«, so donnerte er, voll Wohlwollen, gegen mich los, »so will ich gleich Anzeige davon haben.« Er wiederholte das verschiedentlich, und ich erfuhr später, daß er das jedesmal zum besten gäbe, weil er, seit Jahren, einen Unteroffizierhaß ausgebildet habe, niemand wisse warum. – Das war Wnuck. Mein Hauptmann, sechste Kompanie, war eine Seele[125] von Mann. Er hatte, wiewohl immer noch Hauptmann, schon Ligny und Waterloo mitgemacht, damals kaum fünfzehnjährig. Bei Ligny schoß er auf einen französischen Lancier und fehlte, worauf der Franzose lachend an ihn heranritt und ihm mit der Lanze den Tschako vom Kopfe schlug. Solche Geschichten wurden viel erzählt. Außer dem Hauptmann hatten wir noch drei Offiziere bei der Kompanie, alle drei von beinah sechs Fuß Größe, die stattlichsten im ganzen Regiment: von Roeder, von Koschembahr, von Lepel. Roeder kommandierte zwanzig Jahre später die brandenburgische Brigade – Vierundzwanziger und Vierundsechziger –, die den Übergang nach Alsen so glänzend ausführte; Koschembahr, soviel ich weiß, nahm noch in den vierziger Jahren seinen Abschied; Lepel war Bernhard von Lepel, zu dem ich schon seit fast vier Jahren in freundschaftlichen Beziehungen stand. Es tut das aber nicht gut, einen Freund und Dichtergenossen als Vorgesetzten zu haben. An ihm freilich lag es nicht; ich meinerseits dagegen machte Dummheiten über Dummheiten, worauf ich weiterhin zurückkomme.

Die Freiwilligen in meinem Bataillon, wie beim Regiment überhaupt, waren lauter reizende junge Leute; die militärische Geltung jedoch, deren sich die gesamte Freiwilligenschaft damals erfreute, war noch eine sehr geringe. Das änderte sich erst, als, viele Jahre später, ein mit Ausbildung der Freiwilligen betrauter Hauptmann vom Gardefüsilier-Regiment sich dahin äußerte: »Das Material ist vorzüglich; wir müssen nur richtig damit wirtschaften: gute Behandlung und zugleich scharf anfassen.« Das war das erlösende Wort. Ich glaube, man weiß jetzt allerorten, was man an den Freiwilligen hat4, und sieht in ihnen keine Beschwerde mehr. Als ich diente, hatte sich diese[126] Anschauung noch nicht durchgerungen. Einer unter uns war ein Rheinländer, Sohn eines reichen Industriellen, erst achtzehn Jahre alt, Bild der Unschuld. Von diesem will ich sprechen. Er wurde, wie wir alle, nach einer bestimmten Zeit Vizeunteroffizier und erhielt als solcher ein Wachkommando. Man gab ihm das am Potsdamer Tor, wo sich damals noch, wie an vielen anderen seitdem eingegangenen Stellen, eine Wache befand. Hier kam nun ein arges Versehen vor, an und für sich nichts Schlimmes, aber dadurch schlimm, daß es sich um etwas, das mit dem Hofe zusammenhing, um Honneurs vor Prinzlichkeiten, gehandelt hatte, hinsichtlich deren irgendwas versäumt worden war. Es war derart, daß der arme junge Mann verurteilt und in das Militärgefängnis abgeführt wurde. Daß wir andern Freiwilligen außer uns waren, versteht sich von selbst, am meisten aber die Hauptleute. »Solchen jungen Menschen auf solchen Posten zu stellen! Dummheit, Unsinn ... der Feldwebel war ein Esel ... dieser reizende junge Mensch!« So hieß es seitens der Vorgesetzten in einem fort, und es dauerte denn auch nur wenige Tage, so hatten wir unsren Liebling wieder. Aber er freute sich unsrer Freude doch nur halb; er hatte ein sehr feines Ehrgefühl, zu fein, und konnte die Sache nie ganz überwinden.

Die ersten Monate vergingen wie herkömmlich, und als wir einexerziert waren, begann der kleine Dienst. Eine bestimmte Zahl von Wachen war für jeden Freiwilligen vorgeschrieben, und eine davon ist mir in Erinnerung geblieben und wird es auch bleiben, und wenn ich hundert Jahre alt werden sollte.

Das war eine Wache im Juni, vielleicht auch Juli, denn die Garden waren schon ausgerückt, und, mit Ausnahme der auf der »Kommission« arbeitenden Schuster und Schneider, waren für den hauptstädtischen Wachdienst nur Freiwillige da, die man damals noch nicht mit in das Manöver hinausnahm.

An einem sehr heißen Tage zogen wir denn auch, wohl dreißig oder vierzig Mann stark, auf die Neue Wache, lauter Freiwillige von allen drei Bataillonen. Ein schneidiger älterer Offizier war auserwählt, uns in Ordnung zu halten.

Alles ging gut, und neue Bekanntschaften wurden angeknüpft, denn es kannten sich bis dahin nur die, die demselben[127] Bataillon angehörten. Unter den Freiwilligen des ersten Bataillons war ein junger Studiosus juris namens Dortu, Potsdamer Kind, derselbe, der, fünf Jahre später, wegen Beteiligung am badischen Aufstand in den Festungsgräben von Rastatt erschossen wurde. Der Prinzregent – unser spätrer Kaiser Wilhelm –, als er das Urteil unterzeichnen sollte, war voll rührender Teilnahme, trotzdem er wußte oder vielleicht auch weil er wußte, daß der junge Dortu das Wort »Kartätschenprinz« aufgebracht und ihn, den Prinzen, in Volksreden mannigfach so genannt hatte. Das Urteil umstoßen ging auch nicht, aber das tiefe Mißbehagen, in dem der Prinz sich befand, kleidete er in die Worte: »Dann mußte Kinkel auch erschossen werden.« Das war neunundvierzig. Damals aber – Juli Vierundvierzig – ... »wie fern lag dieser Tag!«

Es war sehr heiß. Als indessen die Sonne eben unter war, kam eine erquickliche Kühle. Nicht lange mehr, so mußte ich wieder auf Posten, und zwar in der Oberwallstraße vor dem Gouvernementsgebäude, drin damals der alte Feldmarschall von Müffling wohnte. Bis dahin war noch eine halbe Stunde. Plaudernd stand ich mit ein paar Kameraden auf der Vordertreppe, dicht hinter den Gewehren, als ich vom Zeughaus her einen jungen Mann herankommen sah, der schon mit der Hand zu mir herübergrüßte. Kein Zweifel, es war mein Freund Hermann Scherz, alten Ruppiner Angedenkens, mit dem ich meine frühsten Kinderjahre und dann später auch meine Gymnasialzeit verlebt hatte. »Wo kommt denn der her? Was will denn der?«

Ich hatte nicht lange auf Antwort zu warten. Er trat an mich heran, begrüßte mich ganz kurz, beinah nüchtern und sagte dann mit jener Ruhe, drauf er sich als Märker wundervoll verstand: »Is mir lieb, daß ich dich noch treffe. Willst du mit nach England? Übermorgen früh.« Daß ich dabei sein Gast sein sollte, verschwieg er, doch verstand es sich von selbst, da niemand existierte, der in meine Geldverhältnisse besser eingeweiht gewesen wäre als er.

Ich war wie gelähmt. Denn je herrlicher mir das alles erschien, je schmerzlicher empfand ich auch: »Ja wie soll das alles zustande kommen? Es ist eben unmöglich. Morgen mittag Ablösung[128] und übermorgen früh nach England. Mir bleiben höchstens vier Stunden, um den nötigen Urlaub zu erbitten. Und wird man ihn mir gewähren?«

Ich war in diesen Betrachtungen fast noch unglücklicher, als ich einen Augenblick vorher glücklich gewesen war, und sprach dies meinem Freunde auch aus. »Ja, wie du's machen willst, das ist deine Sache. Übermorgen früh.«

Und damit trennten wir uns.

Der Mensch verzweifelt leicht, aber im Hoffen ist er doch noch größer, und als ich zehn Minuten später antreten mußte, um mit dem Ablösungstrupp nach der Oberwallstraße hin abzumarschieren, stand es für mich fest, daß ich übermorgen früh doch nach England aufbrechen würde.

Was mir zunächst bevorstand, entsprach freilich wenig diesem Hochflug meiner Seele. Denn ich war noch keine halbe Stunde auf Posten, als ich, von den in Front der Haustür gelegenen Sandsteinstufen her, einen alten spitznäsigen Diener auf mich zukommen sah, der mir augenscheinlich etwas sagen wollte. In unmittelbarer Nähe von mir aber kam er wieder in ein Schwanken, weil er mittlerweile die Achselschnur, das Abzeichen der Freiwilligen, erkannt hatte. Sehr wahrscheinlich war er ein Sachse, wie der alte Müffling selbst, und sah sich als solcher durch Artigkeitsrücksichten bedrängt, die der Märker – und nun gar erst der Berliner – nie kennt oder wenigstens damals nicht kannte. Schließlich aber bezwang er sich und sagte, während er mir einen rostigen, zu einer kleinen Seitenpforte gehörigen Schlüssel einhändigte: »Bitte, Freiwilliger, dies ist der Schlüssel ... der Schlüssel dazu ... die Frauen kommen nämlich heute.« Nur Leute, die noch das Berlin der dreißiger und vierziger Jahre gekannt haben, werden sich in diesem für moderne Menschen etwas pythisch klingenden Ausspruch leicht zurechtfinden, Nachgeborne nicht; ich indessen, als Kind jener Zeit, wußte sofort Bescheid, schob den Schlüssel in meinen Rock und überließ mich, während der spitznäsige Mann wieder verschwand, meinen auf Augenblicke sehr herabgestimmten Betrachtungen. Aber doch auch wirklich nur auf Augenblicke. Nicht lange, so richtete ich mich an dem Gegensätzlichen, das in der Sache lag, ordentlich auf und rechnete mir abergläubisch[129] heraus, daß dieser Zwischenfall eine gute Vorbedeutung für mich sei. Große Dinge, so sagte ich mir, gewönnen nur durch solchen Witz des Zufalls, und ob ein derartiges Satyrspiel der eigentlichen Aufführung folge oder voraufgehe, sei am Ende gleichgültig. Ich wurde immer mobiler und übersprang alle Zweifel in immer kühneren Sätzen.

Die lange Nacht ging vorüber, auch der Vormittag, und zwischen eins und zwei war ich wieder in der Kaserne, wo ich nun zunächst vor dem Feldwebel mein Herz ausschüttete. »Ja«, sagte dieser, »dann nur schnell nach Haus und von da zum Hauptmann.« Und zwischen drei und vier trat ich dann auch bei diesem an.

»Nun, Freiwilliger, was bringen Sie ...?«

»Herr Hauptmann, ich möchte gern nach England.«

»Um Gottes willen ...«

»Ja, Herr Hauptmann, ein Freund will mich mitnehmen; also ganz ohne Kosten, alles umsonst. Und so was ist doch so selten ...«

»Hm, hm«, sagte der liebenswürdige alte Herr, während ich deutlich die Wirkung meiner zuletzt gesprochenen Worte beobachten konnte. »Na, wie lange denn?«

»Vierzehn Tage.«

»Vierzehn Tage. Ja, wissen Sie, solchen langen Urlaub kann ich Ihnen gar nicht geben. Den muß der Oberst geben. Es ist jetzt dreiviertel, und bis vier ist er da. Machen Sie, daß Sie hinkommen.«

»Zu Befehl, Herr Hauptmann.«

Und ich machte kehrt, um gleich danach in der Tür zu verschwinden. Aber er rief mich nochmal zurück und sagte dann mit einer mir unvergeßlichen Miene, darin väterliche Güte mit einem merkwürdigen preußischen Geldernst sich mischte: »Hören Sie, Freiwilliger, der Oberst wird erst ›nein‹ sagen. Aber dann sagen Sie ihm nur das, was Sie mir eben gesagt haben, ›daß Sie's umsonst hätten und daß das doch selten sei ...‹ Und dann wird er wahrscheinlich ›ja‹ sagen.«

Herrlicher Mann. Und auch der Oberst sei gesegnet! Denn als ich das schwere Geschütz auffuhr, zu dem mir der Hauptmann als ultima ratio geraten hatte, war auch das »Ja« da, und[130] am andern Morgen um 7 Uhr war ich auf dem Potsdamer Bahnhof, um meine erste Reise nach England – ein Weg, den ich nachher so oft gemacht habe – anzutreten.

4

Nach meiner Erfahrung und meinem Geschmack kann man nicht leicht etwas Reizenderes sehen als die Freiwilligen unserer Garderegimenter, fast ohne Ausnahme. Sie beweisen mehr als irgendwas die Überlegenheit unserer Armee. Ausgezeichnete Offiziere gibt es überall, und selbst in mittelwertigen Staaten ist es in den Willen und die Macht eines soldatenliebenden Fürsten gelegt, ein ausgezeichnetes Offizierkorps heranzubilden. Aber dreihundert – oder mehr – solcher jungen Leute, wie sie jahraus jahrein als Freiwillige in der preußischen Garde dienen, kann der Betreffende nicht aufbringen, und wenn er sein ganzes Land umstülpt. Woran das liegt, ist leicht zu beweisen, aber hier ist nicht der Platz dazu.

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 15, München 1959–1975, S. 125-131.
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