Achtes Kapitel


Ein Sturm

[116] Der Sturm will jagen: auf fährt er vom Sitz

In seinem zerklüfteten Schlosse,

Er ruft seinen Diener, den flüchtigen Blitz,

Und schwingt sich jauchzend zu Rosse;

Dann probt er die Kraft seiner nervigen Hand

Und schleudert die Tanne, die vor ihm stand,

Gleich einem Ball in die Lüfte.


Die Jagd hebt an: vom Felsenhorst

Stürzt er mit klaffender Meute

Und spürt in Schluchten und Urwaldforst

Nach tausendjähriger Beute.

Von Norden her saust er und braust er heran,

Und jetzt durch Woodstocks mächtigen Tann

Schrillt seine gellende Pfeife.


Es ächzt und stöhnt der geschüttelte Wald –

Umsonst, ihn rettet kein Jammern!

Wie fest die Eiche sich klammert und krallt,

Zerbrochen werden die Klammern.

Und was von der Hand des Sturmes nicht fällt,

Das wird vom Speere des Blitzes zerspellt –

Tot liegen die Riesen des Waldes.


Und weiter geht es auf schnaubendem Roß,

Die Hufe stampfen und schlagen,

Verhängten Zügels an Woodstock-Schloß

Will er vorüber jagen:

Sieh, da stutzt er – an Söllers Rand

Steht ein Mädchen und hebt die Hand

Und ruft: »O komm, o rette!«


»O komm, o rette!« Er fängt es auf

Und trägt es fort in die Lüfte;

Mit Donnerstimme auf seinem Lauf[116]

Ruft er's in Wälder und Klüfte;

Der schäumenden See jetzt schrillt er's ins Ohr,

Und die Wasser der Tiefe steigen empor

Und horchen: »O komm, o rette!«


»O komm, o rette!« An Frankreichs Strand

Gellt es der fliegende Reiter;

Die Städte hindurch, hin über das Land

Braust er weiter und weiter;

Da flattert's wie Linnen auf offenem Feld,

Und lauter an König Heinrichs Zelt

Ruft er: »O komm, o rette!«


Der König hört's; der rüttelnde Sturm

Entriß ihn finsterem Traume:

Er sah einen nagenden Totenwurm

An einem blühenden Baume –

Er denkt des Traumes und steigt zu Schiff,

Ihn kümmert nicht Woge, ihn kümmert nicht Riff,

Er hört nur: »Rette, rette!«

Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 20, München 1959–1975, S. 116-117.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte (Ausgabe 1898)
Gedichte
Die schönsten Gedichte von Theodor Fontane
Werke, Schriften und Briefe, 20 Bde. in 4 Abt., Bd.5, Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes
Gedichte in einem Band
Herr von Ribbeck auf Ribbeck: Gedichte und Balladen (insel taschenbuch)

Buchempfehlung

Diderot, Denis

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Die Nonne. Sittenroman aus dem 18. Jahrhundert

Im Jahre 1758 kämpft die Nonne Marguerite Delamarre in einem aufsehenerregenden Prozeß um die Aufhebung ihres Gelübdes. Diderot und sein Freund Friedrich Melchior Grimm sind von dem Vorgang fasziniert und fingieren einen Brief der vermeintlich geflohenen Nonne an ihren gemeinsamen Freund, den Marquis de Croismare, in dem sie ihn um Hilfe bittet. Aus dem makaberen Scherz entsteht 1760 Diderots Roman "La religieuse", den er zu Lebzeiten allerdings nicht veröffentlicht. Erst nach einer 1792 anonym erschienenen Übersetzung ins Deutsche erscheint 1796 der Text im französischen Original, zwölf Jahre nach Diderots Tod. Die zeitgenössische Rezeption war erwartungsgemäß turbulent. Noch in Meyers Konversations-Lexikon von 1906 wird der "Naturalismus" des Romans als "empörend" empfunden. Die Aufführung der weitgehend werkgetreuen Verfilmung von 1966 wurde zunächst verboten.

106 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon