Siebentes Kapitel


Wie Rosamunde hofft und harrt

[114] Durch Woodstocks Laubengänge hin,

In heller Mittagsstunde,

Zieht nassen Aug's in trübem Sinn

Die schöne Rosamunde;

Sie tritt zu einer Ros' heran

Und pflückt sie und zerpflückt sie dann –

Ein Tropfen fällt hernieder.


Da plötzlich springt – den dürren Leib

Behängt mit schmutz'gen Loden,

Rasch in den Gang ein Bettelweib,

Als wüchs' es aus dem Boden;

Sie kreischt in widerlichem Ton:

»Gib nur die Hand, ich weiß es schon,

Du willst vom Liebsten wissen.«


Sie nimmt die Hand und drückt sie nun –

Auf schreit Schön-Rosamunde;

Die Alte murmelt: »Soll ich's tun?

Kein Lauscher in der Runde!«

Dann aber läßt die Hand sie frei

Und spricht wie mitleidsvoll: »Vorbei!

Betrogen, Kind, betrogen!«


Das Bettelweib, kaum daß sie's sprach,

Ist wieder sie verschwunden,

Schön-Rosamunde starrt ihr nach,

Gelähmt und schreckgebunden;

In Lüften eine Lerche singt –

Sie hört es nicht, im Ohre klingt

Das Sprüchel ihr der Hexe.[115]


Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 20, München 1959–1975, S. 114-116.
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