Bertrams Totengesang

[300] Sie schossen ihn tot um Mitternacht,

Wo das Steinkreuz ragt empor,

Und sie ließen ihn liegen in seinem Blut

Auf dem einsamen Heidemoor.


Sie ritten zu ihres Vaters Haus

Und sprachen: »Es ist geschehn:

Unsre Schwester, die zu oft ihn sah,

Soll ihn nicht wieder sehn.«


Am andern Morgen aber zurück

Ritten sie zu der Stell',

Und sie machten von Zweigen die Totenbahr'

Und trugen ihn in die Kapell'.


Ihre Schwester harrte des Zuges schon,

Sie zerriß ihr langes Kleid,

Ihre gelben Locken löste sie auf

Und kniete an Bertrams Seit'.


Sie holte geweihtes Wasser herbei

Und wusch ihm die Wunden rein,

Einen Kranz um die Brust, einen Kranz ins Haar –

»Nun«, sprach sie, »mag es sein!«


Sie hüllten ihn ein in schneeweiß Lein

Und trugen ihn dann zur Ruh',

Die Mönche sangen die Totenmess'

Und Litaneien dazu.


Sie trugen ihn fort an den alten Ort,

Die Nacht war still und bang;

Es fiel der Tau, der Nebel zog

Das Heidemoor entlang.[300]


Sie gruben sein Grab zwei Fuß tief nur,

Wo das Kreuz gen Osten schaut,

Und sie deckten ihn zu mit Ginstergestrüpp

Und mit Moos und mit Farrenkraut.


Der Mönche einer stand am Grab

Und betete, bis es getagt;

Und in der Kapelle singen sie,

Solange das Steinkreuz ragt.


Quelle:
Theodor Fontane: Sämtliche Werke. Bd. 1–25, Band 20, München 1959–1975, S. 300-301.
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