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[729] Paris, den 1sten des Wintermonds (Brumaire)

im 2ten Jahr der Republik.


Die Hauptstadt Frankreichs war seit langer Zeit die hohe Schule der Menschenkenntniß. Mehr als jemals ist sie es jetzt, und es bedarf nur eines kurzen Aufenthalts und eines flüchtigen Blicks, um hier inne zu werden, was man anderwärts in Jahrzehenden kaum ergrübelt, und nicht nur den Geist der Gegenwart, sondern auch die Zeichen der Zukunft zu enträthseln.

In der neuen Republik ist Paris, was Rom einst in dem Universalreiche war: das ungeheure Haupt, von welchem sich alle Bewegungen durch die Provinzen fortpflanzen, und wo alle Gegenwirkungen zusammen fließen. London, mit einer weit größern Volksmenge, die, im Vergleich mit der Bevölkerung Englands, sich gegen Paris wie sieben zu eins verhält, hat nicht den zehnten Theil der Wichtigkeit und des Einflusses auf das Land.

Die moralische Herrschaft von Paris über die benachbarten Departemente, zum Beispiel, wird durch die Revolutionsarmee recht anschaulich, die gestern ausgezogen ist, um für die Verproviantirung der Hauptstadt zu sorgen; denn daß in der öffentlichen Meinung die größte Stärke dieses Heeres besteht, wird niemand bezweifeln wollen, der es nur sechstausend stark gesehen hat.

Diese öffentliche Meinung aber, und Einflüsse, sind Dinge, wovon man vor der jetzigen Revolution keinen richtigen, wenigstens keinen vollständigen, Begriff gehabt haben mag. Ich lese zuweilen in den jenseitigen Darstellungen von dem was bei uns vorgeht, die Worte: Zwang, Gewaltthätigkeit, Tyrannei; ich finde Vergleichungen mit der vorigen monarchischen Regierung, die gegen unsere jetzige noch golden gepriesen wird. Das mag hingehen; denn wer wird einem aufgebrachten Gegner geradeweg die Principien läugnen? und dies wäre doch das geringste, womit unser einer Ehrenhalber anfangen müßte. Aber ich begreife nicht, wie so mancher treuherzige Royalist bei einer kaltblütigen Untersuchung an das: duo dum faciunt idem, non est idem, nicht gedacht zu[729] haben scheint, ob es gleich der erste Punkt ist, worauf sich etwas, das einer Hoffnung zum Auswege aus dem Labyrinth ähnlich sähe, fein säuberlich erbauen ließe.

Gesetzt, es hätte seine Richtigkeit, daß auch uns im Ganzen genommen, die jetzige Lage unserer Angelegenheiten gerade so schwarz und gelbgrün vorkäme, wie sie ein hypochondrischer Schriftsteller ansehen mag, wenn er sich an einer vornehmen Tafel den Magen verdorben hat; glauben Sie in Ernst, daß wir darum den koalisirten Mächten die Thore unserer Festungen aufriegeln würden? Ich versichere Sie, es wäre gerade das Gegentheil; wir riegelten nur desto fester zu. Das ist nun eine Wirkung der öffentlichen Meinung, die allgemein genug bekannt ist, um unseren philosophirenden Gegnern, wenn auch sonst keinen, zu denken zu geben.

Hier haben Sie gleich noch eine. Die Revolution hat alle Dämme durchbrochen, alle Schranken übertreten, die ihr viele der besten Köpfe hier und drüben bei Ihnen, in ihren Systemen vorgeschrieben hatten. Zuerst schwellte sie über den engen Kreis, den ihr Mounier wohlmeinend anweisen wollte. C'est une tête de bronze, coulée dans un moule anglois, sagten wir, weil er so hartnäckig an seiner Nachahmung der Englischen Konstitution hangen blieb; und damit war ihm das Urtheil gesprochen. Manche, auch gemäßigte Staatsmänner, gingen in ihrer Nachgiebigkeit schon weiter, und glaubten noch an die Möglichkeit einer guten Verfassung außerhalb jenes Bezirks. Als aber auch ihre Herkulssäulen, trotz der stolzen Inschrift: non plus ultra, von dem brausenden Orkan umgestürzt lagen, da verkündigte ihre beleidigte Eitelkeit schon das jüngste Gericht. Andere harrten länger aus; aber seitdem ihr letzter Ableiter, den sie im Föderalsystem gefunden zu haben glaubten, durch einen Blitzstrahl vom Berge zerschmettert worden ist, kommen auch sie mit der Babylonischen Hure schon aufgetreten. Die öffentliche Meinung ist alle diese Stufen hinangestiegen, und auf jeder höheren hat sie den Irrthum erkannt, den die Täuschung des falschen Horizonts verursachte. Jetzt bleibt sie bei der allgemeinsten aller Bestimmungen stehen: einer Bestimmung, die freilich den Hafen so lieblich nicht vormahlt, wo das Staatsschiff wohlgemuth einlaufen und abtakeln soll, wobei es sich[730] aber doch mit jener mystischen Losung aus den neuen Ritterzeiten eines geheimen Ordens: in silentio et spe fortitudo mea, auf offnem Meer, und selbst mit etwas beschädigten Masten und Segeln, noch ganz bequem einherschwimmen läßt.

Die Revolution ist – vorausgesetzt, daß Sie nach unserer generalisirten Definition lüstern sind – ist die Revolution. Ihnen dünkt das wohl zu einfach? oder es scheint wohl gar ins Platte zu fallen? Einen Augenblick Geduld! Lange genug haben wir uns gesträubt, das Kind bei seinem rechten Nahmen zu nennen; aber wer kann für Gewalt? Daß sich alles Kopf über Kopf unter wälzt, ist ein vollgültiger Beweis, daß der Nahme der Sache entspricht; und wer mag wissen, ob mit dieser Bewegung nicht die Exegetik eines Deutschen Schriftstellers noch künftig gerettet werden kann, der von dem großen Worte behauptet hat, daß es eigentlicher auf die Wiederbringung, als auf die Zerstörung aller Dinge gemünzt seyn soll?

Die öffentliche Meinung ist also bei uns in Absicht auf die Natur der Revolution jetzt so weit im Klaren, daß man es für Wahnsinn halten würde, ihr Einhalt thun oder Gränzpfähle stecken zu wollen. Eine Naturerscheinung, die zu selten ist, als daß wir ihre eigenthümlichen Gesetze kennen sollten, läßt sich nicht nach Vernunftregeln einschränken und bestimmen, sondern muß ihren freien Lauf behalten. Etwas ganz Anderes, ganz davon Unabhängiges ist es aber, daß diejenigen, die von diesem Strudel ergriffen sind, ihr eigenes Betragen, nach wie vor, vernunftgemäß einzurichten suchen. Daß die Erde um die Sonne kreiselt und den Mond mit sich fortreißt, das hindert ihn ja nicht, sich stets um die Erde zu drehen. – Ich sah einst die Pferde mit einer Landkutsche Reißaus nehmen, und den Kutscher vom Bocke fallen. Einige Straßenjungen stellten sich an den Weg und schimpften auf die Passagiere. Einer von diesen sprang aus dem Wagen, und stürzte den Hals ab; die übrigen waren klüger: sie blieben sitzen, und dachten, wir wollen warten, bis der Koller vorüber ist:1[731] Seitdem man bei uns die Revolution als eine neue unaufhaltsame Schwungkraft anzusehen gelernt hat, haben sich auch viele von ihren Gegnern wieder mit ihr ausgesöhnt; und meinen Sie nicht, daß es immer noch besser ist, ihr nachzulaufen und sie einzuholen, als mit gewissen Halbweisen, die ihr voranliefen und sie zuerst in Bewegung brachten, plötzlich stille zu stehen und sich zu ärgern, daß sie, wie eine Schneelavine, mit beschleunigter Geschwindigkeit dahinstürzt, stürzend an Masse gewinnt, und jeden Widerstand auf ihrem Wege vernichtet? Das neulich erlassene Dekret des Nationalkonvents, daß die Regierung in Frankreich bis zum Frieden revolutionär bleiben soll, ist der eigentlichste Ausdruck der öffentlichen Meinung, daß die Revolution sich so lange fortwälzen müsse, bis ihre bewegende Kraft ganz aufgewendet seyn wird.

Diese bewegende Kraft ist allerdings nichts rein Intellektuelles, nichts rein Vernünftiges; sie ist die rohe Kraft der Menge. In so fern, wie Vernunft ein vom Menschen unzertrennliches Prädikat ist, in so fern hat sie freilich auf die Revolution ihren Einfluß, wirkt mit in ihre Bewegung, und bestimm zum Theil ihre Richtung; aber präponderiren kann sie nicht, und wenn – wie wir doch nicht in Abrede seyn wollen? – die Revolution einmal im Rathe der Götter beschlossen war, durfte sie es auch nicht, weil ihre Präponderanz an und für sich nur die Revolution hemmen, nie sie treiben und vollbringen kann. Ich würde sie die ächte vim inertiae nennen, wenn ich es mit einem Physiker zu thun hätt; denn einmal überwunden von der Stoßkraft, dürfte dennoch in ihr selbst der Grund jener langen Dauer liegen, womit die Revolutionsbewegung so manchen unerfahrnen Beobachter in Erstaunen setzte.

Als Necker dieses große, nicht zu berechnende Mobil der Volkskraft anregte, wußte er nicht, was er that. Die ersten Anfänge der Bewegung waren aber wegen des Umfangs, der Masse und des Gewichts so unmerklich, daß Klügere als er, sich täuschten, und diese ungeheure Triebfeder umspannen zu[732] können, sich vermaßen. Allein wie bald entwand sie sich aus ihren ohnmächtigen Händen! – Es entstand ein chaotisches Ringen der Elemente; es erfolgten die heftigsten Konvulsionen, die furchtbarsten Erschütterungen. Kleinere gegenstrebende Bewegungen wurden von den größeren, allgemeineren verschlungen; so gab es denn eine gleichartige Bewegung, oder mit andern Worten: der Wille des Volks hat seine höchste Beweglichkeit erlangt, und die große Lichtmasse der Vernunft, die immer noch vorhanden ist, wirf ihre Strahlen in der von ihm verstatteten Richtung.

Ich weiß nicht, ob ich mich deutlicher hätte fassen können, um Ihnen von der jetzigen Beschaffenheit der öffentlichen Meinung einige Begriffe zu machen. Einem oder dem andern würde es vielleicht mehr sagen, wenn ich mich mathematisch so ausdrückte: Unsere öffentliche Meinung ist das Produkt der Empfänglichkeit des Volks, vermehrt mit dem Aggregat aller bisherigen Revolutionsbewegungen. Wer einen anschaulichen Begriff davon hat, oder auch nur aus der Geschichte und Anthropologie weiß, wie beweglich und empfänglich die Französische Nation ist; und wer dann berechnet, in welchem Grade die Ereignisse der vier letzten Jahre diese Reitzbarkeit erhöhen und das Theilnehmen an den öffentlichen Angelegenheiten schärfen mußten: dem wird es schwerlich entgehen, daß die Macht einer auf diese moralische Beschaffenheit geimpften öffentlichen Meinung Wunder thun kann.

Sie werden es nunmehr so ungereimt nicht finden, daß ich vorhin an das duo dum faciunt idem etc. erinnert habe. Die Erscheinungen unter dem Joche des Despotismus können denen, die sich während einer republikanischen Revolution ereignen, sehr ähnlich sehen, und die letzteren sogar einen Anstrich von Fühllosigkeit und Grausamkeit haben, den man dort wohl hinter einer sanfteren Larve zu verbergen weiß; doch sind sie schon um deswillen himmelweit verschieden, weil sie durch ganz verschiedenartige Kräfte bewirkt werden, und von der öffentlichen Meinung selbst einen ganz verschiedenen Stempel erhalten. Eine Ungerechtigkeit verliert ihr Empörendes, ihr Gewaltthätiges, ihr Willkührliches, wenn die öffentliche Volksmeinung, die als Schiedsrichterin unumschränkt in letzter Instanz entscheidet, dem Gesetze der[733] Nothwendigkeit huldigt, das jene Handlung oder Verordnung oder Maßregel hervorrief.

Dieser Vortheil ist wesentlicher, als Sie es viel leicht mit vielen Antigallikanern geglaubt haben mögen, und ersetzt uns so manche Unvollkommenheit der Revolutionsregierung, daß man diese nie richtig beurtheilen wird, bis man ihm nicht volle Gerechtigkeit hat widerfahren lassen. Der National – Convent herrscht lediglich durch die Opinion, bald, indem er sich ihr bequemt, bald, indem er durch seine Berathschlagungen und seine ungeheure Thätigkeit auf sie zurückwirkt und sie bestimmt. So wenig wünschenswerth unser Zustand in Absicht auf die Regierung immerhin genannt und geschildert werden mag, so irrt man doch bei Ihnen gar zu sehr, wenn man von ihrer heterokliten Beschaffenheit auf ihre Zerstörbarkeit schließt; denn was ihr Dauer und Stärke verspricht, ist ja gerade diese durch das Ganze jetzt unwiderstehlich herrschende Einheit des Volkswillens, verbunden mit der Repräsentantenvernunft. Setzen Sie diese letztere so tief herab, wie es Ihnen gut dünkt; dennoch bleibt noch immer ein solcher Lichtherd übrig, daß, sobald nur jener Einklang mit dem allgemeinen Wollen vorhanden ist, nichts dem politischen Riesen widerstehen kann. Warum verhält es sich beim Despotismus anders? Die Auflösung liegt am Tage. Die Einheit fehlt; Vernunft und Wille sind beide nur im Kopfe des Herrschers und seiner Räthe; das Volk ist eine leblose Masse, ein todter Körper, der bloß mechanischen Antrieben gehorcht; jene geistigen Kräfte durchströmen und beleben ihn nicht, verbinden ihn nicht mit sich selbst zu einem lebendigen Ganzen. Beider Zweck und Streben sind gänzlich verschieden. Freilich giebt es noch ein Mittel, die Trägheit, oder die Kraft des Widerstandes im Volke zu überwinden; aber das Beispiel Frankreichs haben wir zu deutlich vor Augen. Wehe dem Deutschen Necker, der sie dort entbindet und in Bewegung setzet!

Ich wollte Ihnen mehr schreiben; denn wie manches hab, ich nicht auf diesem Herzen, das die große Nothwendigkeit fühlt, welche gerade im jetzigen Zeitpunkte, »Männer in jedem Staate fordert, die über die Vorurtheile der Völkerschaft hinweg wären und genau wüßten, wo Patriotismus Tugend[734] zu seyn aufhört2.« – Doch fürs erste sey dies genug zur Probe, genug, um Sie den Gesichtspunkt beurtheilen zu lassen, zu dem der Aufenthalt in Paris so leicht hinführen kann.

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 3, Leipzig [1971], S. 729-735.
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