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[766] Paris, am 13ten des Reifmonds.


Sie sollen Recht haben, mein Freund; auch habe ich nicht geradezu wegläugnen wollen, daß man aus einzelnen Zügen zuweilen den Charakter eines Zeitpunkts, eines Volkes, einer besondern Entwickelung menschlicher Geisteskräfte kennen lernt. Nur muß man diese Züge auszuwählen wissen, und nicht Handlungen ohne alle Physiognomie, denen etwa der Nahme des Handelnden ihr ganzes Interesse giebt, für bezeichnende Auftritte halten. Ich will Ihnen heute eine Begebenheit mittheilen, aus welcher, wie mich dünkt, der Geist der Revolution unverkennbar hervorleuchtet.

Laplanche, ein Volksrepräsentant, der im Departement der Manche die Aufsicht hat, schrieb vor einigen Tagen an den National-Convent, daß das 11te Bataillon der neuen Pariser Requisition, welches hauptsächlich aus den Sektionen der Tuilerien und der Eliseischen Felder formirt worden ist, sich zu Coutances rebellisch aufgeführt, die dreifarbige Kokarde beschimpft, und O Richard, o mon Roi, gesungen hätte. Wirklich sollen eine Anzahl übelgesinnter Leute, nehmlich verwöhnte Kinder reicher Handelshäuser, Advokatenschreiber, abgeschaffte Subalternen aus den Bureaux, gewesene Priester sogar, in diesem Bataillon gesteckt und durch eine üble Anwendung ihres Geldes die Andern gewonnen oder[766] wenigstens im Rausch verleitet haben, mit ihnen allerlei ungeziemende Streiche zu verüben, die ihnen zuletzt als Aufruhr angerechnet werden konnten. In der Jakobinergesellschaft deliberirte man am Abend, nachdem jener Bericht im Convent vorgekommen war, was zu thun sey, und fand unter andern, daß man einen so übel organisirten Haufen nicht in die Vendee, oder gegen die daraus entflohenen Rebellen, sondern gegen die Östreicher hätte schicken sollen. Während dieser Berathschlagung trat ein Abgeordneter von der Sektion der Tuilerieen herein, um die Gesellschaft zu benachrichtigen: »daß die ganze Sektion, vier tausend stark, versammelt gewesen sey und einmüthig den Entschluß gefaßt habe, am folgenden Morgen den Convent um die Bestrafung dieser Aufrührer zu bitten; vorläufig hätte sie auch schon die Eltern derer, die man als Rädelsführer angäbe, verhaften lassen.«

Den andern Tag, den 4ten dieses Monats, zog nun die ganze Sektion der Tuilerien, Männer und Weiber, vor die Schranken des Convents. Der Präsident der Sektion bat um Erlaubniß, die Adresse lesen zu lassen. Baudouin, als Redner, hielt zuvor diese Anrede:

»Wir sind verrathen! Ein Theil der zahlreichen Jugend, die Hoffnung des Vaterlandes, hat seine Stimme verkannt. Menschen, die sich noch eben jetzt Republikaner nannten, die den ehrenvollen Beruf hatten, für die Unabhängigkeit des Frankenvolkes zu streiten, sind zu Rebellen geworden, und haben öffentlich jenes verabscheuungswerthe Lied gesungen, woran sich die Räuber in der Vendee erkennen. Stellvertreter des Volks! So gehe augenblicklich aus dem Schooße des heiligen Berges das Rachfeuer hervor, und verzehre die Aufrührer! Das große Beispiel einer so verdienten, so schnellen Strafe, müsse den Treulosen schrecken, der sich versucht fühlte, ihnen nachzuahmen.«

»Die Sektion der Tuilerien muß den Schmerz erdulden, diese Verräter an der Sache der Freiheit unter ihre Kinder zu zählen, wenn dieser Nahme noch Verräthern zukommt. Hier kommen die Väter und Mütter in Eure Versammlung; sie fordern ihre Bestrafung von Euch; sie entsagen ihnen auf ewig. Die echten Sanskülotten werden schon wissen, sich[767] durch eine republikanische Adoption für dieses Opfer schadlos zu halten. Die übrigen richte das Volk! Ein schnelles, furchtbares Gericht vertilge von der Erde der Freiheit jene feigen Ungeheuer, die ihrem oft wiederholten und selbst in Eurer Gegenwart abgelegten Schwur, zu siegen oder frei zu sterben, ungetreu werden konnten... Wir haben es auch geschworen; und wir haltens. Wir halten den heiligen, feierlichen Eid. Ist es nöthig, so gehen wir, ja wir gehen selbst, uns an den Platz unserer schuldigen Söhne zu stellen und ihre schnöden Verbrechen gut zu machen. Wir ersuchen Euch, uns zu erlauben, selbst Überbringer der Befehle des National – Convents zu seyn. Laßt vier Kommissarien aus unserer Mitte sie dem Volksrepräsentanten mittheilen und Zeugen von der Verurtheilung und Hinrichtung dieser Elenden werden.«

Hierauf verlas er den Beschluß der Sektion, und der Präsident des National-Convents lud alle vor den Schranken Stehenden ein, an der Sitzung Theil zu nehmen. Merlin von Thionville bemerkte, daß Rom nur Einen Brutus, wir aber jetzt sechshundert zählten. Thuriot machte in einer rührenden Rede bemerklich, daß Brutus vermöge seines Amtes im Staate das Urtheil über seine Söhne fällen mußte; hier aber sey es reine Empfindung, edle, nie erreichte Aufopferung und Selbstverläugnung, die aus Vätern und Müttern eine patriotische Jury bilde. »Nun urtheilt selbst«, rief er aus, »auf welche Höhe sich der Revolutionsgeist mit der Freiheitsliebe geschwungen hat! Auf dem ganzen Erdenrunde giebt es keinen einzigen Menschen, den es nicht ergreifen und mit Bewunderung durchdringen muß, wenn er vernimmt, daß bei der bloßen Erwähnung des Verraths, dessen man die Kinder einer Sektion beschuldigt, Väter, Mütter, Freunde, Verwandte, Mitbürger in hellem Haufen hergezogen sind, um genugthuende Rache an den Verräthern zu fordern.« Er setzte noch hinzu, daß er das Verbrechen nicht für so schlimm halte, als man es gleich Anfangs geschildert habe. Es wären Verwandte und Freunde von ehemaligen Adeligen im Bataillon gewesen: sie hätten in ihren Trinkgelagen unfehlbar die guten Sanskülotten, ihre Kameraden, ihrer Vernunft beraubt, weil die Letzteren nur auf diese Art der Freiheit entrissen werden könnten. »Aber,« schloß er endlich, »was auch[768] der Ausschuß des öffentlichen Wohls hierüber berichten wird, dekretirt, Bürger, – bei der Rührung fodre ich Euch auf, die jene große Bürgertugend, wovon wir Zeugen sind, in uns Allen erregte – dekretirt augenblicklich, daß die Sektion der Tuilerien sich um das Vaterland verdient gemacht habe. Durften wir glauben, daß unsern Unwillen über die neue Verrätherei die würdigen Väter, die patriotischen Mütter theilen würden, die hier ganze Ströme von Thränen vergießen und gleichwohl nicht anstehen, Euch zuzurufen: unsere Kinder sind schuldig; wir liefern sie dem Schwert der Gerechtigkeit! Wer diese Sprache gegen Euch führen kann, ist unfehlbar tugendhaft. Laut also laßt uns verkünden, daß die Sektion der Tuilerien sich um das Vaterland verdient gemacht habe! So ehren wir die guten Sitten und die Revolution, so führen wir einen tödtlichen Streich gegen die kalten Berechner des Unglücks ihres Vaterlandes, die jene Bürgersöhne in den Abgrund stürzen wollten, deren Väter hier schwören, ihr eignes Blut für das Vaterland zu vergießen.«

Der unzweideutigste Beifall hatte die Äußerungen der Sektion der Tuilerien, und diese Rede Thüriots gekrönt. Man hörte lange nichts als: »Republik und Freiheit!« jauchzen; und Thüriots Vorschlag wurde sogleich einstimmig genehmigt. – In der Sitzung vom 11ten ist nun von dem angeklagten Bataillon selbst eine Adresse an den National-Convent eingegangen, worin es sich gegen die Beschuldigungen in dem Briefe von Laplanche ausführlich rechtfertigt. »Wir hoffen,« sagen die jungen Krieger, »daß der unwillkührliche Irrthum eines Augenblicks uns nicht zum Verbrechen ausgelegt werden wird. Wir glaubten, den Befehlen des Ministers Folge leisten zu müssen; er hatte uns nach Cherbourg, zur Vertheidigung dieses Platzes beordert,« (und nach den Dispositionen des Repräsentanten sollten sie gegen die Rebellen in Avranches ziehen). »Der Ausbruch des Murrens bei einigen unter uns, hat keinen Zug, keinen Schein von Aufruhr gehabt, und alle in dem an den Convent überschickten Protokoll gesammelten Klagartikel sind verfälscht und übertrieben.« Am Schlusse betheuern sie, daß die Liebe des Vaterlandes und der Wunsch seine Feinde zu bekämpfen, sie beseelt. Der Convent hat diesen Brief an den Ausschuß des öffentlichen Wohls[769] verwiesen, der über den wahren Verlauf der Sache zu berichten hat. –

So weit können Sie alles, was diesen Vorfall betrifft, aus den Zeitungen, und vielleicht noch umständlicher als ich es hier erzählt habe, erfahren. Aber was in keiner Zeitung steht, was in seiner lebendigen Natur die Feder eines Geschichtschreibers und selbst die eines Dichters nicht erreichen kann, das waren die Scenen in der Sektionsversammlung, als der Brief von Laplanche verlesen ward, und hernach vor dem Convent, bei Überreichung ihres Beschlusses. Zwischen Bürgersinn und Elternliebe erhob sich der wunderbarste Kampf – oder darf ich Kampf nennen, was eigentlich ein Zusammenschmelzen beider Gefühle in ein unnennbares war? Die Überzeugung von der Strafbarkeit ihrer Kinder sprach augenblicklich das Todesurtheil im Herzen selbst der Väter und Mütter; und zu gleicher Zeit behauptete der Schmerz über den Verlust ihrer Lieblinge seine traurigen Rechte. Ihre Thränen stürzten unaufhaltsam hervor; aber das Vaterland und die Gerechtigkeit forderten ihre Opfer. Unter lautem Weinen und Schluchzen schrieen die unglücklichen Väter und Mütter, mit einer sie selbst betäubenden leidenschaftlichen Heftigkeit: »fort zum Tode mit ihnen! auf den Richtplatz! sie haben's verdient!« Es blieb kein trocknes Auge weder im Convent, noch unter den Tausenden von Zuschauern.

Quelle:
Georg Forster: Werke in vier Bänden. Band 3, Leipzig [1971], S. 766-770.
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