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[508] Wer immer in den gebahnten Wegen des Lebens fortgegangen ist, begrenzt durch das Gesetz, bestimmt durch Ordnung, Sitte und Form, welche in seiner Heimat als tausendjährige Gewohnheit von Geschlecht zu Geschlecht vererbt worden, und wer plötzlich als einzelner unter Fremde geworfen wird, wo das Gesetz seine Rechte nur unvollkommen zu schützen vermag, und wo er durch eigene Kraft die Berechtigung zu leben sich alle Tage erkämpfen[508] muß; der erst erkennt den Segen der heiligen Kreise, welche um jeden einzelnen Menschen Tausende der Mitlebenden bilden, die Familie, seine Arbeitsgenossen, sein Volksstamm, sein Staat. Ob er in der Fremde verliere, oder gewinne, er wird ein anderer. Ist er ein Schwächling, so wird er die eigene Art den fremden Gewalten opfern, in deren Bannkreis er getreten ist. Hat er Stoff zu einem Manne, jetzt wird er einer. Doppelt teuer werden seiner Seele die Güter, in deren Besitz er aufgewachsen war, vielleicht auch die Vorurteile, die an seinem Leben hingen; und manches, was er sonst gleichgültig angesehen hatte, wie Luft und Sonnenschein, das wird jetzt sein höchstes Gut. Erst im Auslande lernt man den Reiz des Heimatdialekts genießen, erst in der Fremde erkennt man, was das Vaterland ist.

Auch Anton sollte erproben, was er besaß und was ihm noch fehlte.

Am nächsten Morgen begann die Besichtigung der Bodenfläche. Die Besitzung bestand aus dem Hauptgut und drei Vorwerken, nur die Hälfte des Bodens stand unter der Pflugschar, ein kleiner Teil lag in Wiesen, fast die Hälfte war Wald und an dem Saume desselben nackter Sand. Schloß und Dorf lagen ungefähr in der Mitte der großen Lichtung, zwei Vorwerke an den entgegengesetzten Enden gegen Morgen und Abend, beide durch Vorsprünge des Waldes versteckt. Das dritte Vorwerk im Süden war durch den Wald ganz von dem Gute getrennt, es lehnte sich an ein anderes polnisches Dorf, hatte einen eigenen Wirtschaftshof und wurde seit alter Zeit als getrenntes Gut bearbeitet. Es umfaßte über den vierten Teil der Bodenfläche, hatte eine Brennerei und war seit einigen Jahren in Pacht des Branntweinbrenners, eines wohlhabenden Mannes. Der Kontrakt des Pächters war durch Ehrenthal auf einige Jahre verlängert worden, der Pachtzins war niedrig und mehr zum Vorteil des Arrendators als der Gutsherrschaft festgesetzt. Doch war dies Pachtverhältnis gegenwärtig ein Glück für das Gut, weil es von einem Teil desselben Einkünfte gewährte. Der verwüstete Wald stand unter einem Förster.

Der erste Gang durch die Flur des Hauptgutes war so unerfreulich als möglich; die Felder waren für die Winterfrucht fast ohne Ausnahme nicht bestellt, und wo ein kleiner Teil die Spuren der[509] Pflugschar zeigte, da war sie durch die Bewohner des Dorfes hingetragen worden, welche das herrenlose Gut als ihre Beute betrachteten und die fremden Ansiedler mürrisch und mit verhaltenem Grimme anstarrten. Seit Jahren hatten sie keine Hand- und Spanndienste geleistet, und der Schulze, den Anton herbeirufen ließ, erklärte trotzig, die Gemeinde werde sich nicht gefallen lassen, daß die alte Zeit wiederkehre. Er gab vor, kein Wort deutsch zu verstehen, auch Karls Beredsamkeit vermochte nur unbehilfliche Reden aus ihm herauszubringen. Der Ackerboden selbst, vernachlässigt und durch Unkräuter entstellt, war in vielen Feldstücken besser als Anton erwartet hatte, und der Schenkwirt rühmte seine Erträge; nur in der Nähe des Waldes erwies er sich als dürftig, auf manchen Stücken gar nicht für Fruchtbau geeignet.

»Das wird ein ernster Tag«, sagte Anton, seine Brieftasche einsteckend. »Laß die Britschka anspannen, wir fahren zu den Kühen. «

Das Vorwerk, auf welchem das Rindvieh einquartiert war, lag gegen Abend, eine halbe Stunde vom Schlosse entfernt. Ein erbärmlicher Stall, daran die Wohnung eines Knechtes, das war alles. Die Rinderherde und zwei Paar Zugochsen waren dem Großknecht übergeben, er hauste dort mit seiner Frau und einem schwachsinnigen Hirten. Die Leute verstanden nur wenig Deutsch und flößten kein Zutrauen ein; die Frau war eine unsaubere Dame ohne Schuhe und Strümpfe, deren Milchschüsseln die reinigende Macht des Wassers wohl selten erfahren hatten. Der Knecht und zuweilen der Hirt pflügten mit den Ochsen, wo ihnen gerade gut schien, die Herde weidete auf den ungebauten Äckern um das Vorwerk. »Hier ist Arbeit für dich«, sagte Anton, »untersuche die Herde und was du etwa von Winterfutter findest. Ich notiere die Gebäude und das Gerät.« Karl berichtete: »Vierundzwanzig Milchkühe, halb soviel Jungvieh und ein alter Stier; höchstens ein Dutzend Kühe sind brauchbar, die andern unnütze Grasfresser. Das Ganze ist schlechte Rasse; es sind früher einmal fremde Kühe, wahrscheinlich Schweizer, hierhergeschafft worden, und ein Zuchtstier, der für den hiesigen Schlag viel zu groß war, so sind häßliche Mischlinge entstanden. Die besten Stücke sind offenbar ausgetauscht, denn einiges elende Landvieh läuft in der Herde, das sich apart zusammenhält, es kann noch nicht lange[510] bei den andern sein. Von Futter ist etwas Heu für den Winter, und einige Stock Haferstroh da, Streu fehlt ganz.«

»Die Gebäude sind trostlos«, rief Anton. »Fahr, Kutscher, nach der Brennerei. – Ich habe den Pachtvertrag genau durchgesehen und bin dort noch am besten orientiert.«

Der Wagen rollte auf einer schlechten Brücke über den Bach, dann über Äcker und über eine kahle Sandfläche, spärlich mit Wolfsmilch und Sandgras bewachsen, in deren Wurzeln zuweilen das Samenkorn einer Kiefer gekeimt hatte und als krummer Strauch seine Äste über den Sand legte. Darauf kam der Wald, Büsche aus Stangenholz mit weiten Zwischenräumen, zwischen denen der nackte Sand zutage lag, überall Wurzelstöcke der geschlagenen Bäume, mit Flechten und Büscheln Heidekraut umwachsen. Schritt um Schritt wateten die Pferde durch den lockern Sand, keiner der beiden Gefährten sprach, ungeduldig haftete ihr Blick auf jedem Baum, den ein günstiger Zufall höher und breiter geformt hatte, als die dürftigen Nachbarn.

Endlich erweiterte sich die Aussicht, noch ein Dutzend Kiefernbäume am Wege, und wieder lag eine Ebene vor den Reisenden, ebenso einförmig, ebenso mit Wald eingefaßt, wie die Ackerinsel, aus welcher sie kamen. Vor ihnen stand ein Kirchdorf, sie fuhren bei einem hölzernen Kruzifix vorüber und hielten auf dem Hofe des Vorwerks. Der Pächter hatte wohl schon ihre Ankunft gehört, wahrscheinlich war er mit den Verhältnissen des Freiherrn besser bekannt, als Anton lieb war; denn er empfing seinen Besuch mit einer Gönnermiene und steifem Nacken. Kaum daß er sie in ein leeres Zimmer führte. Und eine seiner Fragen war: »Glauben Sie denn, daß der Rothsattel das Gut wird behaupten können? Es ist viel daran zu tun, und wie ich höre, ist der Mann nicht im Stande, Kapitalien hineinzustecken.«

Die anmaßende Kälte erbitterte Anton, aber er erwiderte mit der zähen Ruhe, welche der Handelsverkehr dem Eingeweihten gibt: »Wenn Sie mich fragen, ob der Freiherr von Rothsattel die Herrschaft behaupten wird, so erwidere ich Ihnen, daß er dies um so eher imstande sein wird, je gewissenhafter seine Pächter und Zinsleute ihren Verpflichtungen gegen ihn nachkommen. Gegenwärtig bin ich hier, um nachzusehn, ob Sie selbst diese Pflichten erfüllt haben. Ich bin bevollmächtigt, Ihr Inventarium auf[511] Grund Ihres Pachtvertrags durchzusehen. Und wenn Ihnen an dem guten Willen des Freiherrn jetzt und in der Zukunft gelegen sein sollte, so gebe ich Ihnen den wohlmeinenden Rat, höflicher gegen seinen Stellvertreter zu sein.«

»Der gute Wille des Barons ist mir ganz gleichgültig«, erwiderte der aufgeblasene Pächter. »Aber da Sie von Ihrer Vollmacht reden, so zeigen Sie mir doch das Papier.«

»Hier ist sie«, sagte Anton, ruhig das Dokument aus der Tasche ziehend.

Der Arrendator sah die Schrift sorgfältig durch, oder gab sich wenigstens den Anschein, endlich reichte er die Blätter nachlässig zurück und sagte grob: »Ich weiß gar nicht, ob Sie das Recht haben, jetzt durch meine Wirtschaft zu gehn. Indes habe ich nichts dawider. Gehen Sie und sehen Sie an, was Sie wollen.« Dabei setzte er seine Mütze auf und wandte sich ab, um nach der Nebenstube zu gehen.

Karl faßte in seinem Zorn einen Stuhl und stieß ihn auf den Boden, Anton aber vertrat mit schnellem Schritt dem Pächter den Weg und sagte ihm in ruhigem Geschäftston: »Ich lasse Ihnen die Wahl, ob Sie uns auf der Stelle selbst durch die Wirtschaft führen wollen, oder ob ich eine Inventur durch das Gericht veranlassen soll. Das letztere wird Ihnen Kosten verursachen, die ich für unnütz halte. Ihre Anwesenheit ist notwendig, den Bestand des Inventariums festzustellen, und deshalb sind Sie verpflichtet. Sie selbst, uns zu begleiten. Außerdem will ich Ihnen noch andeuten, daß jedem Pächter der gute Wille des Eigentümers notwendig ist, wenn er eine Verlängerung seiner Pacht beabsichtigt; und die Ihre geht in zwei Jahren zu Ende. Auch mir ist es keine Freude, in Ihrer Gesellschaft die nächsten Stunden zuzubringen, wenn Sie aber die Pflichten des Kontrakts und der Höflichkeit gegen mich nicht erfüllen, so wird der Eigentümer Ihres Vorwerks jede kontraktwidrige Nachlässigkeit, welche sich hier findet, dazu benutzen, durch die Gerichte sein Verhältnis zu Ihnen aufzulösen. Jetzt haben Sie die Wahl.«

Der Pächter sah einige Augenblicke verdutzt in das entschlossene Gesicht Antons und sagte endlich: »Wenn Sie durchaus darauf bestehen, – es war nicht so böse gemeint.« Unwillkürlich rückte er an der Mütze und ging voran in den Hof. Anton folgte[512] und zog wieder seine Schreibtafel heraus. Die Besichtigung begann. Nr. 1. Wohnhaus, das Dach defekt. – Nr. 2. Kuhstall, ein Fach der Lehmwand ausgefallen usw. – So ging es lange fort in unerquicklichem Betrachten und Hadern. Das geschäftsmäßige Wesen Antons und die kriegerische Haltung seines Begleiters übten zuletzt ihre Wirkung auf den Pächter, er wurde kleinlauter und murmelte sogar einige Entschuldigungen.

Als Anton den Wagen heranwinkte, sagte er dem Mann: »Ich gebe Ihnen vier Wochen Zeit, die bemerkten Übelstände zu beseitigen. Nach dieser Frist komme ich wieder.« Und vom Wagen aus rief Karl dem plumpen Mann zu: »Wollten Sie vielleicht die Güte haben, jetzt Ihre Mütze abzunehmen, wie ich tue, dies ist der passende Augenblick. – So ist's recht, mit der Zeit werden Sie das Ding schon lernen. Vorwärts, Kutscher! – Wenn Sie wiederkommen«, sagte er zu Anton, »wird der Mann sein, wie ein Ohrwurm, der aus einer Pflaume kriecht. Er ist dick geworden auf dem Vorwerk.«

»Und das Hauptgut ist schlechter geworden durch ihn«, sagte Anton. – »Nach dem neuen Vorwerk!«

Ein dürftiges Wohnhaus, auf der einen Seite der lange Schafstall, auf der andern der Pferdestall und die Scheuer.

»Es ist merkwürdig«, sagte Karl, aus der Ferne auf die Gebäude sehend, »dieses Dach hat keine Löcher; dort in der Ecke ist ein Viereck von neuem Stroh eingesetzt. Bei Gott, das Dach ist ausgebessert.«

»Hier ist die letzte Hoffnung«, erwiderte Anton.

Als der Wagen vorfuhr, zeigte sich der Kopf einer jungen Frau am Fenster, neben ihr ein blondhaariger Kinderkopf, beide fuhren schnell zurück.

»Dies Vorwerk ist das Juwel des Gutes«, rief Karl und sprang über den Rand der Britschka herunter. »Es sind deutliche Spuren einer Düngerstätte hier. Dort läuft ein Hahn und die Hennen hinterdrein, alle Wetter, ein regulärer Hahn mit einem Sichelschwanz. Und hier steht ein Myrtenstock am Fenster. Hurra! hier ist eine Hausfrau, hier ist Vaterland, hier sind Deutsche.«

Die Frau trat aus dem Hause, eine saubere Gestalt, gefolgt von dem krausköpfigen Knaben, der beim Anblick der Fremden schleunigst seine Finger in den Mund steckte und sich hinter der[513] Schürze seiner Mutter verbarg. Anton frug nach dem Mann. »Er kann Ihren Wagen vom Felde sehen, er wird sogleich hier sein«, sagte die errötende Frau. Sie bat die Herren in die Stube und stäubte mit ihrer Schürze eilig zwei Holzstühle ab. Es war ein kleines geweißtes Zimmer, die Möbel mit roter Ölfarbe gestrichen, aber sauber gewaschen, im Kachelofen brodelte der Kaffeetopf, in der Ecke tickte eine Schwarzwälder Uhr, und auf einem kleinen Holzgestelle an der Wand standen zwei gemalte Porzellanfiguren und einige Tassen, darunter wohl ein Dutzend Bücher; hinter dem kleinen Wandspiegel aber steckte die Fliegenklappe und eine Birkenrute, sorgfältig mit rotem Band umwunden. Es war der erste behagliche Raum, den sie auf der weiten Gutsfläche gefunden hatten.

»Ein Gesangbuch und eine Rute«, sagte Anton freundlich; »ich hoffe, Sie sind eine brave Frau. Komm her, Blondkopf.« Er zog den verdutzten Knaben auf seinen Schoß und ließ ihn auf dem Knie reiten, im Schritt, im Trab und Galopp, bis der kleine Kerl sich entschloß, seine Hände anderswo unterzubringen, als im Munde. »Er kennt das«, sagte die Frau erfreut, »sein Vater macht's ihm gerade so, wenn er artig ist.«

»Sie haben eine schwere Zeit durchgemacht«, warf Anton hin.

»Ach, Herr«, rief die Frau, »als wir hörten, daß eine deutsche Herrschaft das Gut gekauft hatte, und daß wir jetzt alles für sie zusammenhalten müßten, und daß sie nächstens kommen würden und vielleicht hierher ziehen, da haben wir uns gefreut wie Kinder. Mein Mann war den ganzen Tag wie einer, der in der Schenke gewesen ist, und ich habe vor Freuden geweint. Wir glaubten, daß jetzt Ordnung werden sollte, und man will doch wissen, für wen man arbeitet. Mein Mann hat ernsthaft mit dem Schäfer gesprochen, – er ist auch aus unserer Gegend, – und die beiden Männer haben miteinander abgemacht, daß sie es nicht leiden wollen, wenn der Inspektor noch etwas verkauft. Und dasselbe hat mein Mann dem Inspektor gesagt. Aber niemand ist gekommen in vielen Wochen, wir haben alle Tage in der Schenke nachgefragt, und mein Mann ist in Rosmin beim Gericht gewesen und hat sich erkundigt, bis es zuletzt hieß, sie würden gar nicht kommen, und das Gut würde wieder verkauft werden. Da, es sind jetzt vierzehn Tage her, ist der Inspektor mit einem fremden[514] Fleischer angefahren und hat verlangt, mein Mann soll ihm die Hammel übergeben. Mein Mann hat sich geweigert. Da haben sie ihm gedroht und mit Gewalt in den Schafstall gewollt. Und der Schäfer und mein Mann haben sich davorgestellt und die beiden zurückgeworfen. Darauf sind diese mit Flüchen weggefahren und haben gewettert, sie werden sich die Schafe doch holen. Seit der Zeit haben unsere Männer jede Nacht gewacht, dort hängt die geladene Flinte, die sich der Vogt dazu geborgt hat; und wenn des Schäfers Hund bellte und sich etwas im Hofe rührte, bin ich aufgefahren und habe um den Mann und das Kind eine fürchterliche Angst gehabt. Es sind gefährliche Menschen hier, Herr Oberamtmann, und Sie werden das auch finden.«

»Ich hoffe, vieles soll jetzt besser werden«, sagte Anton. »Ihr habt ein einsames Leben hier.«

»Es ist wohl einsam«, sagte die Frau, »nach dem Dorfe kommen wir fast gar nicht, und nur manchmal des Sonntags in die deutschen Dörfer, wenn wir zur Kirche gehen. Aber es gibt immer im Hause zu schaffen, und«, fuhr sie verlegen fort, »ich will's nur gerad heraussagen, wenn es Ihnen nicht recht ist, soll es auch aufhören. Ich habe einen kleinen Fleck hinter der Scheuer umgegraben, wir haben ihn eingezäunt und einen Garten daraus gemacht; da habe ich mir gezogen, was ich für die Küche brauchte, und dann«, fuhr sie stockend fort, »dann sind auch noch die Hühner – und auch ein Dutzend Enten, und wenn Sie nicht böse sein wollten, die Gänse auf der Stoppelweide, und«, sie fuhr mit der Schürze an die Augen, »noch die Kuh und das Kalb.«

»Unser Kalb«, rief der kleine Blondkopf laut und schlug mit den Händen auf Antons Knie.

»Wenn Ihnen nicht recht ist, daß ich das Vieh für mich gehalten habe«, fuhr die Frau weinend fort, »so soll ja alles aufhören. Lohn hat mein Mann und der Schäfer seit der letzten Wollschur nicht bekommen, und was wir zum Leben gebraucht, das haben wir uns durch Verkauf schaffen müssen; aber mein Mann hat Rechnung geführt über alles, und er wird sie Ihnen vorlegen, damit Sie sehen, daß wir keine unehrlichen Leute sind.«

»Ich hoffe, es wird sich so ausweisen«, tröstete Anton die aufgeregte Frau. »Unterdes zeigen Sie mir Ihren Garten; wenn es möglich ist, sollen Sie ihn behalten.«[515]

»Es ist nichts mehr darin«, sagte die Frau entschuldigend und führte die Gäste zu dem eingehegten Platz, dessen Beete schon in großen Schollen umgegraben waren für die Winterruhe. Sie beugte sich nieder, und suchte von Blumen zusammen, was sie noch fand, einige Astern, und ihren Stolz, die Herbstveilchen. Sie band einen Strauß und überreichte ihn Anton. »Weil Sie ein Deutscher sind«, sagte sie dabei mit freudigem Lächeln.

Im Hofe hörte man eilige Schritte. Der Vogt kam in der Arbeitsjacke mit geröteten Wangen heran und stellte sich vor. Er war ein junger stattlicher Mann von verständigem Wesen mit einem Zutraun erweckenden Gesicht. Anton sagte ihm einiges Ermunternde, und im Diensteifer eilte der Mann ins Haus und brachte seine Rechnungen herzu.

»Erst betrachten wir die Wirtschaft«, sagte Anton, »die Bücher nehme ich mit, Ihr kommt morgen auf das Schloß, dort besprechen wir das Weitere.«

»Die Pferde sind auf dem Felde«, erklärte der Vogt, »ich selbst führe den einen Pflug, bei dem andern muß Schäfers Knecht helfen. Es sind nur vier Pferde hier, sonst standen zwölf in dem Stall. Wir haben in diesem Jahre wenig mehr gebaut, als unser Deputat und Futter für das Vieh. Es fehlte an allem.« – Der Gang durch die Wirtschaftsräume war doch erfreulich, die Gebäude waren in erträglicher Ordnung, und die vorhandenen Vorräte gaben Hoffnung, die Herde über den Winter zu erhalten. Zuletzt öffnete der Vogt mit freudigem Gesicht eine Tür im Bodenraum des Wohnhauses und wies auf einen Haufen Erbsen. »Das Stroh haben Sie über dem Schafstall gesehn, hier sind die Erbsen selber, ich habe sie vor dem Inspektor versteckt, weil ich dachte, sie gehörten Ihnen. Es war auch Eigennutz dabei«, fuhr er ehrlich fort, »denn wir waren so gestellt, daß wir nichts erhielten, und ich mußte auf etwas denken, was diesem Vorwerk das Leben rettete, wenn der Winter keine Hilfe brachte.«

Die Frau des Vogts trat mit ihrem Knaben herzu, als die Männer aufbrachen, ihr Gesicht leuchtete vor Freude über die bevorstehende Verbesserung ihrer Lage.

»Es ist gut«, sagte Anton lächelnd, »ich hoffe, wir werden miteinander zurechtkommen. Und jetzt zu den Schafen. Wir gehen, kommt mit uns, Vogt.« Der Wagen fuhr langsam über das Feld[516] voraus, der Vogt erklärte eifrig den Zustand der Feldstücke; nicht der vierte Teil des Ackers, welcher zu dem Vorwerk gehörte, war bestellt, lange Strecken lagen seit Jahren als Weideland in Ruhe.

Ungeduldig eilte Karl voraus, als sie sich dem wolligen Volk näherten, welches gegenwärtig fast der einzige Schatz lebender Wesen war, der dem Gut gehörte. Langsam mit breitem Schritt kam der Schäfer den Fremden entgegen, begleitet von seinen zwei Hunden, dem erfahrenen alten, welcher gleichen Schritt mit seinem Herrn hielt und ebenso bedächtig, wie sein Brotherr das neue Schicksal des Gutes herankommen sah, und von einem jungen Köter, der als Lehrling in dem schweren Berufe eines Schäferhundes sich vergeblich bemühte, den Schein ruhiger Würde zu behaupten; er lief immer wieder in jugendlicher Hitze seinem Herrn vor und bellte die Fremden an, bis ein mißbilligendes Knurren seines erfahrenen Kameraden ihn zum Stillstehn brachte. Der Schäfer nahm mit Förmlichkeit seinen breiten Filzhut ab und erwartete die Anrede der Fremdlinge. Als denkender Mann und Naturkundiger wußte er allerdings, wen er vor sich sah, aber es hätte einem, dessen ganzes Leben darauf gerichtet war, vorschnelles Wesen an Schafen und Hunden zu bändigen, sehr schlecht gestanden, wenn er selbst die Neugierde eines Böckleins gezeigt hätte. Der Vogt stellte mit einer kreisförmigen Handbewegung dem Schäfer die beiden Herren vor, und der Schäfer neigte mehrmals seinen Kopf in einer Weise, welche anzeigte, daß er die Wahrheit der ausgesprochenen Worte vollständig begreife. »Eine hübsche Herde, Schäfer«, redete ihn Anton an.

»Fünfhundertfünfundzwanzig Stück«, erwiderte der Schäfer, »darunter sechsundachtzig Lämmer, dort hinten vierzig Masthammel.« Er suchte mit forschendem Blick in der Herde nach einem Schaf, welches die wünschenswerten Eigenschaften eines Probestücks hatte, beugte sich nieder, faßte das Tier mit schnellem Ruck bei den Hinterbeinen und präsentierte die Wolle. Karl begann die Untersuchung. Es waren große starkgebaute Tiere, wie sie zu den Verhältnissen des Gutes paßten, und gleichmäßiger in Bau und Wolle, als sich nach allem hoffen ließ. »Wenn sie Futter kriegen, geben sie ihre Wolle«, sagte der Schäfer stolz. »Es ist Kernwolle.«[517]

Ein Jährling war so unvorsichtig, zu husten. Der Schäfer sah mißbilligend auf das vorlaute Tier; »die Herde ist ganz gesund«, sagte er.

»Wie lange seid Ihr hier im Dienst?« frug Anton.

»Neun Jahre«, erwiderte der Mann. »Als ich her kam, war das Vieh, wie die Pudel in der Stadt, mit nacktem Hinterteil. Es hat Mühe gemacht, niemand hat sich um die Herde bekümmert; es ist deswegen nicht schlechter gegangen. Wenn ich nur immer Erbsenstroh gehabt hätte, und in diesem Winter die ordinären Erbsen für die Mütter.«

»Wollen sehn, was sich tun läßt«, erwiderte Anton; »es ist knapp in der Wirtschaft für diesen Winter.«

»Das ist wahr«, sagte der Schäfer, »aber das hier ist schöne Brachweide. «

»Ich glaube gern«, sagte Anton lächelnd, »daß Eure Schafe nicht unzufrieden sind. Es gibt wenig Felder hier, auf denen Euer Hund nicht zu jeder Jahreszeit gebellt hat. Mit Freuden habe ich gehört, wie brav Ihr die Herde für Euren neuen Herrn verteidigt habt. Sind die Leute hier Euch oft ärgerlich gewesen?«

»Ich könnt's nicht sagen, Herr«, erwiderte der Schäfer, »die Menschen sind sich überall gleich, sie wollen nicht parieren und sie haben keine Überlegung. Ich richte eher einen Hund ab für die Herde, als einen Menschen.« Er stützte sich breitspurig auf seinen langen Stab und sah mit Wohlgefallen auf seinen Hund herunter, der unterdes pflichtgetreu die Herde umbellt hatte und jetzt zu seinem Herrn zurückkam, um seine Schnauze vertraulich an den Hosen desselben abzuwischen. »Sehen Sie diesen Hund an! Wenn ich einen Hund zwei Jahre in der Lehre gehabt habe, so ist er entweder gut, oder er ist nicht gut. Wenn er nicht gut ist, so jage ich ihn fort und ich bin fertig mit ihm; wenn er einmal gut geworden ist, so kann ich mich, solange er lebt, auf ihn verlassen, wie auf mich selber. Den Jungen dort bei den Hammeln habe ich drei Jahre im Dienst, und ich kann keine Stunde dafür stehn, daß er nicht einen verrückten Einfall bekommt, und anstatt meine Schafe nach rechts zu treiben, selber nach links läuft. Deswegen sage ich, es ist auf Menschen kein Verlaß.«

»Und auf wen verlaßt Ihr Euch in dieser Welt?« frug Anton. »Zuerst auf mich selber«, sagte der Schäfer, »denn ich kenne[518] mich, und dann auf meinen Hund Krambow, den kenne ich auch, und außerdem noch zuletzt, wie sich's gehört«, – er winkte mit dem Kopf ein wenig nach der Höhe, dann pfiff er leise seinem Hunde, Krambow fuhr wieder im Kreis um die Herde. »Und Sie«, fuhr der Schäfer fort, »werden Sie hierbleiben bei dem Herrn Baron?«

»Ich denke ja«, erwiderte Anton.

»Und darf ich fragen, als was? Inspektor und Amtmann sind Sie nicht, denn Sie haben sich die Hammel noch nicht angesehen. Die Hammel müssen fort, es ist hohe Zeit. Also, darf ich fragen, was sind Sie bei dem neuen Herrn?«

»Wenn's ein Titel sein soll«, erwiderte Anton, »so nennt mich Rechnungsführer. «

»Rechnungsführer«, sagte der Schäfer nachdenklich, »da darf ich wohl mit Ihnen über mein Deputat reden?«

»Das sollt Ihr, Schäfer, das nächste Mal, wenn ich Euch sehe.«

»Es hat keine Eile«, sagte der Schäfer, »man will nur wissen, wie? In meiner Stube ist eine Glasscheibe zerbrochen, der Glaser wird jetzt wohl wieder aufs Schloß kommen, da bitte ich, Herr Rechnungsführer, daß Sie an mich denken.«

Karl und der Vogt traten heran, Anton rief den Kutscher: »Nach der Försterei!«

»Sie wollen zum Förster?« frug der Vogt mit verlegener Miene.

»Er will zum Förster!« wiederholte der Schäfer und trat einige Schritte näher.

»Weshalb wundert Euch das?« frug Anton aus dem Wagen.

»Es ist nur« – sagte der Vogt stockend, »der Förster ist ein wunderlicher Mann. Und wenn nicht der Herr Baron selbst kommt, so wird er sich nicht ergeben.«

»Wohnt er denn in einer Festung?« frug Anton lachend.

»Er hat sich eingeschanzt«, sagte der Vogt, »und läßt niemanden in sein Haus, er lebt auf seine eigentümliche Weise.«

»Er ist ein Waldmensch«, sagte der Schäfer mit dem Kopfe nickend.

»Die Polnischen sprechen, es ist ein Schwarzkünstler«, fuhr der Vogt fort.

»Er kann verschwinden«, rief der Schäfer.[519]

»Glaubt Ihr das auch?« frug Karl erfreut.

»Es gibt keine Hexriche«, sagte der Schäfer mit starker Mißbilligung dieses Vorurteils, »die im Dorfe halten manchen dafür. Der Förster ist ein natürlicher Mann. «

»Er ist im Grunde ein guter Mann, aber er hat seinen Eigensinn«, sagte der Vogt.

»Ich hoffe, er wird meine Vollmacht respektieren«, entgegnete Anton, »es wäre sein Schaden, wenn er es nicht täte. «

»Es wird doch besser sein, wenn ich mit dem Förster spreche«, bat der Vogt. »Wenn Sie mir erlauben wollen, mit Ihnen zu fahren – er hat zu mir ein gutes Zutrauen.«

»Meinetwegen«, schloß Anton, »nehmt die Zügel, der Knecht mag unterdes den Pflug führen, auf dem Rückweg setzen wir Euch ab. Und jetzt vorwärts zu dem gefährlichen Mann.«

Der Vogt lenkte in einen Feldweg, der in den Wald zwischen junges Kiefernholz führte. Der Boden war wieder Sand, der Baumwuchs kümmerlich. Über Wurzeln und Steine ging es auf einem Seitenwege tiefer in den Wald hinein, an einem Schlage von fünfzehnjährigem Holz hörte der Fahrweg auf, der Vogt schlang die Zügel um einen Baumstamm und bat die Herren auszusteigen. Auf schmalem Fußpfade schritten sie durch dickes Kieferngebüsch vorwärts, die langen Nadeln streiften an ihre Kleider, die eingeschlossene Luft war mit kräftigem Waldgeruch angefüllt. Hinter dem jungen Holz senkte sich der Boden, der Grund wurde feucht, grünes Moos hatte seine weichen Polster ausgebreitet, und eine Gruppe mächtiger Föhren streckte ihre dunklen Kronen hoch in die Luft. Hier lag das Försterhaus, von den braunen Ästen der Waldbäume überdacht, ein niedriger Holzbau von einem starken Bretterzaun umgeben, um dessen Außenseite eine dreifache Reihe junger Fichten als Hecke gepflanzt war. Ein kleiner Quell rieselte unter dem Holz des Zauns hervor, von den Wedeln großer Farnkräuter überdeckt fiel er murmelnd über einige Steine. Unten das saftige Moosgrün, darüber die Stämme hundertjähriger Bäume mit bärtigen Flechten bewachsen, und darin das Haus hinter grünendem Zaune versteckt, das war ein Anblick, der zwischen Sand und Heide wohl erfreuen mußte. Nirgend war ein Weg zu sehen, auf dem Moose nicht einmal die Spuren eines Fußtritts, nur das Hundegebell im Hofe verkündete,[520] daß nicht Frau Holle oder die sieben kleinen Zwerge in der Hütte wohnten, sondern leibhaftige Menschen. Die Männer gingen um den Zaun herum, bis sie an eine schmale Tür kamen, die aus starken Bohlen zusammengenagelt und fest verschlossen war.

»Sein Dompfaff sitzt oben am Fenster«, sagte der Vogt, »er ist zu Hause.«

»So ruft ihn an«, befahl Anton.

»Er weiß längst, daß wir hier sind«, erwiderte der Vogt und wies auf eine Reihe kleiner Öffnungen im Zaune; »sehen Sie die Gucklöcher? Er beobachtet uns schon, aber das ist seine Art so. Ich muß mein Zeichen geben, sonst wird er nicht aufmachen.« Der Vogt steckte zwei Finger in den Mund und pfiff dreimal, aber alles blieb still. »Er ist tückisch«, sagte der Vogt bekümmert. Wieder tönte sein gellender Pfiff, bis das Gebell der Hunde in Geheul überging, und der Dompfaff am Dachfenster mit den Flügeln um sich schlug.

Endlich erklang eine rauhe Stimme von der andern Seite der Wand: »Wen zum Henker bringt Ihr mit Euch?«

»Macht auf, Förster«, rief der Vogt, »die neue Herrschaft ist da.«

»Geht zum Teufel mit Eurer Herrschaft«, antwortete die Stimme unwillig, »ich habe die Zucht satt.«

Der Vogt sah bestürzt auf Anton. »Öffnen Sie das Tor«, befahl dieser, »es wird Ihnen nützlich sein, wenn Sie freiwillig tun, wozu ich Sie zwingen kann. «

»Zwingen?« frug die Stimme; »seht zu, ob Ihr mit dem fertig werdet.« Der Lauf einer Doppelflinte schob sich durch das Loch in der Tür und bewegte sich gemächlich hin und her.

»Das Gewehr wird Euch nichts helfen«, erwiderte Anton, »wir haben etwas bei uns, was von heut ab in diesem Walde stärker sein soll, als die Gewalt, und das ist unser Recht und das Gesetz.«

»So?« frug die Stimme, »und wer sind Sie denn?«

»Ich bin der Bevollmächtigte des neuen Gutsherrn und befehle Euch, diese Tür zu öffnen.«

»Heißen Sie Moses oder Levi?« rief die Stimme wieder. »Ich will mit keinem Bevollmächtigten der Welt zu tun haben. Wer als Bevollmächtigter zu mir kommt, den halte ich für einen Spitzbuben.«[521]

»I so soll doch das Donnerwetter auf Euren harten Kopf fahren«, rief Karl in tiefster Entrüstung. »Wie könnt Ihr Euch unterstehen, von meinem Herrn so despektierlich zu reden, Ihr verrückter Kommisstiefel!«

»Kommisstiefel?« frug die Stimme, »das lasse ich mir gefallen, daß ist das verständigste Wort, welches ich seit langer Zeit gehört habe.« Der Riegel schob sich zurück, und der Förster trat vor die Tür, die er wieder hinter sich zuzog. Er war ein kleiner breitschultriger Mann mit grauem Haar und einem langen grauen Bart, der ihm bis auf die Brust herabhing; in dem runzligen Gesicht glänzten zwei schlaue Augen wie Kohlen; er trug einen dicken abgeschabten Rock, dem Sonne und Regen jede Farbe ausgezogen hatten, hielt seine Doppelflinte in der Hand und blickte trotzig auf die Fremden. So glich er einem Stück Baumstamm aus dem Walde. Endlich sagte er: »Wer hat hier geschimpft?«

»Ich«, antwortete Karl vortretend, »und Ihr sollt mehr erhalten, als schwere Worte, wenn Ihr in Eurer Insubordination fortfahrt.«

»Was tragt Ihr für eine Mütze?« frug der Alte, Karl aufmerksam betrachtend.

»Seid Ihr ein Pilz geworden in Eurem Walde, daß Ihr die nicht kennt?« erwiderte Karl und schwenkte seine Soldatenmütze um den Kopf.

»Husar?« frug der Alte. »Invalide«, erwiderte Karl.

Der Alte wies auf ein kleines Band an seinem Rocke. »Landwehr«, sagte er, »1813 und 1814.«

Karl griff an die Mütze und salutierte: »Respekt, Alter; aber ein Grobian seid Ihr doch.«

»Na, Euch hört man's auch nicht an, daß Ihr Invalide seid«, sagte der Förster. »Ihr seht toll genug aus, und fluchen könnt Ihr auch. Also Sie sind keine Händler und keine Agenten?« frug er zu Anton gewandt.

»So nehmt doch Vernunft an«, rief der Vogt. »Dieser Herr hier hat den Auftrag, das ganze Gut zu übernehmen und von jetzt ab zu verwalten, bis die Herrschaft selber kommt. Es wird bessere Zeit werden, Förster, der Herr ist anders, als die in der letzten Zeit hier waren. Ihr stürzt Euch ja ins tiefste Unglück mit Eurem widerhaarigen Wesen.«[522]

»So?« sagte der Förster. »Um mein Unglück kümmert Euch nicht, ich werde schon allein damit fertig. Also Sie sind ein Bevollmächtigter? In den letzten Jahren ist alle Augenblicke ein anderer gekommen mit einer Vollmacht. Und das will ich Ihnen sagen«, fuhr er zornig fort und trat einige Schritte vor, »Bücher und Rechnungen finden Sie nicht bei mir. Meine Sache steht so: Seit fünf Jahren habe ich als Förster, der über diesen Wald gesetzt ist, mich mit den Vollmachten herumgezankt, jede Vollmacht hat Klaftern geschlagen in ihre Tasche, und zuletzt sind die Bauern gekommen aus allen Dörfern und haben sich Holz geholt, soviel sie wollten, und wenn ich ihnen mein Eisen unter die Nase hielt, so hielten sie mir einen Spitzbubenzettel von einem Bevollmächtigten unter die Nase, der ihnen alles erlaubte. Ich hab nichts mehr zu sagen gehabt und habe hier für mich gelebt. Wild gibt's wenig, was ich geschossen habe, habe ich aufgegessen, und Haut und Balg verkauft, denn der Mensch muß leben. Seit fünf Jahren habe ich keinen Pfennig Salär erhalten, ich habe mir's selbst genommen. Alle Jahre fünfzehn Stämme von diesen hier. So weit Sie dort die Lichtung sehen, stand neunzigjähriges Holz, fünfmal fünfzehn Stämme habe ich für mich niedergeschlagen, noch drei Winter reichen die Stämme, die hier stehen, auf so lange geht meine Rechnung. Wenn der letzte niedergeschlagen war, dann wollte ich meine Hunde totschießen und mir einen stillen Platz im Walde aussuchen.« Er sah finster auf seine Flinte. »Dreißig Jahre habe ich hier gelebt, ich habe mein Weib und meine Kinder auf dem deutschen Kirchhofe begraben; was jetzt mit mir geschieht, bekümmert mich nicht. So weit um dieses Haus herum der Blaff meiner Hunde reicht und meine Kugel trägt, ist der Wald im Stande, das andere hat den Bevollmächtigten gehört. Das ist meine Rechnung, und jetzt machen Sie mit mir, was Sie wollen.« Er stampfte in großer Aufregung den Kolben auf die Erde.

»Auf das, was Sie mir gesagt haben«, erwiderte Anton, »werde ich Ihnen antworten in der Försterei und in der Stube, welche von jetzt ab Ihrem Brotherrn, dem Freiherrn von Rothsattel gehört.« Er schritt zu der Tür und legte die Hand an den hölzernen Riegel: »So ergreife ich Besitz von dem Eigentum des neuen Grundherrn.« Er öffnete die Tür und winkte dem Förster: »Halten Sie[523] Ihre Hunde zurück und führen Sie uns in Ihr Zimmer, wie es sich schickt.«

Der Förster widersprach nicht, er ging langsam voran, rief die Hunde ab und öffnete die Klinke seiner Haustür.

Anton trat mit seinen Begleitern in die Stube. »Und jetzt, Förster«, sagte er, »da Sie uns dies Haus geöffnet haben, will ich Ihnen zur Stelle Bescheid sagen. Was bis zu diesem Tage an dem Walde von Ihnen geschehen ist, das ist nicht zu ändern, und darüber soll fortan keine Rede sein. Von heut an erhalten Sie wieder festes Gehalt und ihr Deputat, und wir werden deshalb untereinander einen neuen Vertrag machen. Und von heute stelle ich den Wald des Gutes und alles, was zur Wald- und Jagdgerechtigkeit gehört, unter Ihre Aufsicht. Ihre Pflicht ist, von jetzt ab als braver Förster dem Gutsherrn zu stehen für sein Recht, und von dieser Stunde an mache ich Sie dafür verantwortlich. Ich werde Sie schützen bei jedem gesetzlichen Tun, wo ich selbst dies nicht vermag, werde ich die Hilfe des Gesetzes für uns fordern. Gegen jedes Unrecht, das an dem Walde verübt wird, werden wir strenge sein, damit die Unordnung aufhöre. Eine bessere Zucht soll auf diesen verwilderten Gütern eingeführt werden, und der neue Herr erwartet von Ihnen, daß Sie als gehorsamer und treuer Mann ihm dabei helfen. Auch das wilde Leben im Busch, das Sie in den letzten Jahren geführt, soll aufhören, wir sind Landsleute, Sie werden regelmäßig auf das Schloß kommen, und über den Wald Rapport bringen, und wir werden dafür sorgen, daß Sie sich in Ihren alten Tagen nicht verlassen fühlen. Wollen Sie ehrlich alles tun, was ich von Ihnen verlange, so reichen Sie mir jetzt Ihre Hand. «

Der Förster hatte verdutzt mit abgezogener Mütze die Rede Antons angehört, jetzt schlug er in die dargebotene Hand und sagte: »Ich will.«

»Mit diesem Handschlag«, fuhr Anton fort, »nehme ich Sie in Pflicht und Dienst im Namen des Gutsherrn.«

Der Förster hielt lange mit beiden Händen die Hand Antons fest und rief endlich: »Wenn ich's noch erlebe, daß es auf diesem Gut besser wird, so soll mich's freuen. Ich will tun, was ich kann; aber ich sage Ihnen im voraus, es wird harten Tanz setzen; durch die Verwalter und die liederliche Wirtschaft sind die Gutsleute[524] wie die Räuber geworden, und ich fürchte, meine alte Flinte wird mehr als einmal das letzte Wort sprechen müssen.«

»Wir werden kein Unrecht ertragen und kein Unrecht tun, den Erfolg müssen wir abwarten«, erwiderte Anton ernst. »Und jetzt, Förster, zeigen Sie uns Ihre Wohnung und machen Sie sich zurecht, uns in den Wald zu begleiten.« Anton durchschritt das kleine Haus. Es war von Balken gezimmert, die Stube von innen mit Brettern verschlagen. Durch die kleinen Fensterscheiben fiel das Licht trübe herein, die braune Farbe der Bretterwände und die schwarze Balkendecke vermehrten die Dunkelheit und gaben dem Zimmer ein geheimnisvolles Aussehen. Nur undeutlich war zu erkennen, was rundum an der Wand befestigt war, Geweihe, Hundehalsbänder, Jagdgerät und ausgestopfte Vögel. Am Ofen stand ein kleiner Schrank mit Küchengeschirr. »Ich koche mir selbst«, sagte der Förster: »was ich brauche, hole ich aus der Schenke.« An den Fenstern hingen Vogelbauer zu zweien und dreien übereinander, und das Gezwitscher der kleinen Waldvögel, ein unaufhörliches Zanken, Locken und Schwatzen, klang wie eine heimliche Unterredung, die der Wald selbst mit seinem alten Wächter hielt. In der Nähe des Ofens saß ein Rabe mit struppigem Gefieder, weiße Federn schimmerten an seinem Kopf und den Flügeln und bewiesen das hohe Alter des Vogels. Er hatte seinen Hals zusammengezogen und schien ganz in sich versunken, aber seine glänzenden Augen beobachteten jede Bewegung der Fremden. Neben der Wohnstube war die Schlafkammer, dort hingen die Gewehre, an dem Bett stand eine hölzerne Lade. Ein Gitter vor dem Fenster verriet, daß hier die Zitadelle des Hauses war.

»Wohin führt diese Tür?« frug Anton, auf eine Falltür im Boden deutend.

»Es ist ein Kellerloch«, erwiderte der Förster zögernd.

»Ist es gewölbt?« frug Anton.

»Ich führe Sie wohl hinunter«, sagte der Förster, »wenn Sie allein kommen wollen.«

»Erwartet uns im Hofe«, rief Anton seinen Begleitern in die Stube hinein.

Der Förster zündete eine Lampe an, verriegelte sorgfältig die Kammertür und ging mit dem Licht voran, »Ich hätte nicht gedacht«,[525] sagte er, »daß bei meinen Lebzeiten ein fremdes Auge mein Geheimnis sehen sollte.« Wenige Stufen führten hinunter in ein enges Gewölbe, das durch einen Mauerritz notdürftig Luft erhielt. An der einen Seite aber war die Grundmauer durchbrochen, ein niedriger Stollen führte in die Erde. Er war durch Baumstämme abgestützt, die in spitzem Winkel aneinander ruhten.

»Dies ist mein Dachsbau«, sagte der Förster und hielt die Lampe in die dreieckige schwarze Öffnung; »der Weg führt unter der Erde fort in das junge Holz. Er ist über vierzig Schritt lang, und ich habe lange Zeit gebraucht, ihn auszugraben. Auf dem Wege krieche ich aus dem Haus und wieder herein, ohne daß es jemand merkt; und ihm verdanke ich, daß ich hier ausgehalten habe, denn er ist Ursache, daß die dummen Bauern mich als einen Hexenmeister fürchten. Wenn sie mich belauert hatten, daß ich in dem Hof hineinging, und sich sicher glaubten bei einer Dieberei, stand ich auf einmal wieder hinter ihnen. Es sind jetzt zehn Jahre her, da überfiel eine Bande mein Haus, damals war es auf mein Leben abgesehen, ich aber fuhr als Dachs durch die Röhre. Verraten Sie niemandem, was ich Ihnen gezeigt habe.«

Das versprach Anton, und sie kehrten zurück in den Hofraum. Dort fanden Sie Karl beschäftigt, den hölzernen Trog eines jungen Fuchses zwischen vier Pflöcken festzuklammern, die er in den Boden schlug. Der Fuchs war unempfindlich gegen die Aufmerksamkeit des Husars, er fauchte ihn wütend an, rasselte mit seiner Kette und suchte fortwährend unter dem Brett, durch welches ihn Karl in der Hütte eingeschlossen hatte, die Hände und Waden des Arbeitenden anzufallen. »Willst du mir die Hand küssen, kleiner Rotkopf!« rief Karl hämmernd, »du bist ein artiger Junge, was du für treuherzige sanfte Augen hast! So, fertig; jetzt spring herüber und wieder zurück. Er folgt aufs Wort, Förster. Ein gutmütiges Tier, ganz Euer Naturell, Kamerad.«

Der Förster lachte. »Versteht Ihr mit einem Fuchseisen umzugehen?«

»Ich denke«, sagte Karl.

»Es sind mehr solche Burschen hier«, fuhr der Förster fort; »wenn's Euch recht ist, stellen wir den nächsten Sonntag zusammen.«[526]

So schritten alle im besten Einvernehmen durch das Holz, Anton rief den Förster neben sich und ließ sich von ihm die nötigste Auskunft geben. Was der Alte berichtete, war freilich nicht gut, von schlagbarem Holze war kaum vorhanden, was die Wirtschaft selbst nötig hatte. Das alte Plünderungsystem hatte in rohester Weise den Forst ruiniert. Als der Förster am Rand des Waldes seine Mütze zog und respektvoll frug, zu welcher Stunde er morgen auf das Schloß kommen dürfe, da empfand Anton mit Freude, daß es ihm gelungen war, die innere Unsicherheit zu verbergen, die ihn in den neuen Verhältnissen so sehr störte.

»Sieh«, sagte er zu seinem Getreuen, als beide am Abend vor dem grünen Kachelofen saßen, »das ist es, was mir hier die größte Sorge macht; ich fühle mich unwissend und hilflos jedem Knecht gegenüber, und ich habe doch die Aufgabe, auch die Wirtschaft in Respekt zu erhalten. Wie wenig der gute Wille allein nützt, habe ich in diesen beiden Tagen deutlich erkannt. Jetzt gib guten Rat. Was sollen wir zunächst in der Wirtschaft tun?«

»Was von Vieh unbrauchbar ist, verkaufen Sie auf der Stelle, die schlechten Leute bei den Kühen entlassen Sie auf der Stelle. Rindvieh und Pferde bringen Sie auf den großen Hof zusammen, damit sie unter Aufsicht sind. Was von Feldbestellung mit den geringen Kräften noch geschafft werden kann, das wird regelmäßig gemacht, nichts übereilt. Gekauft muß jetzt werden Stroh und Hafer. Hier auf dem Hofe übergeben Sie bis zum nächsten Frühjahr, wo ein ordentlicher Beamter notwendig wird, mir die Aufsicht, ich werde meine Sache nicht gut machen, aber besser als ein anderer von Ihren Leuten.«

Es war spät am Abend, als ein eiliger Tritt auf der Treppe gehört wurde. Mit einer großen Stallaterne und einem Gesicht voll von argen Neuigkeiten trat der Schenkwirt in Antons Stube. »Ich wollte dem Herrn doch melden, was ich gehört habe. Ein Deutscher aus Kunau, der soeben hier durchkam, hat die Nachricht gebracht, daß der Bratzky gestern nicht in Rosmin angekommen ist.«

»Nicht angekommen?« rief Anton aufspringend.

»Eine halbe Meile vor Rosmin im Walde ist der Wagen von vier Reitern überfallen worden, es war finster, der Bratzky saß gebunden im Wagen, neben ihm der Gendarm. Die Reiter aber haben[527] den Gendarm überwältigt und selbst gebunden, und den Bratzky mit allen seinen Sachen vom Wagen gehoben, und fort mit ihm auf ein Pferd und in die Büsche. Zwei Reiter sind bei dem Wagen geblieben und haben den Kutscher gezwungen, von der Straße abzufahren in ein Dickicht, und dort haben sie ihre Pistolen zwei Stunden lang dem Kutscher und dem Gendarm vorgehalten. Dann sind sie weggeritten. Der Kutscher sagt, die Pferde wären Herrenpferde gewesen, und die Männer hätten vornehm miteinander gesprochen. Der Gendarm ist zerstoßen, sonst ist ihm nichts geschehn; nur Ihren Bericht haben sie ihm genommen.«

Die Stubengenossen sahen einander betroffen an und dachten an die Reiter von gestern. »Wo ist der Mann, der die Nachricht gebracht hat?« frug Anton und griff nach seinem Hut.

»Er war eilig, weiter zu kommen, wegen der Finsternis«, sagte der Wirt. »Morgen werden wir vieles hören von der Geschichte. Das ist nicht vorgekommen seit Jahren, daß sie zu Pferde überfallen haben einen Wagen, in welchem sitzt der Gendarm selber. Wenn sie bei uns geraubt haben, so haben sie es immer getan zu Fuß.«

»Habt Ihr einen der Reiter erkannt, welche gestern nachmittag im Dorfe waren und nach dem Inspektor riefen?« frug Anton.

Der Wirt warf einen schlauen Blick auf Anton, zögerte aber zu antworten.

»Nun«, drängte Anton, »die Herren waren doch aus der Gegend, einen und den andern müßt Ihr kennen.«

»Warum soll ich ihn nicht kennen?« erwiderte der Wirt unruhig. »Es ist doch der reiche Herr von Tarow selber mit seinen Gästen. Ein mächtiger Mann, Herr Wohlfart, welcher hat die oberste Polizei auch über Ihre Güter. Und was er hat zu tun gehabt mit dem Bratzky? Der Bratzky hat doch als Inspektor hier auch versehen die Polizei, und ist manchmal gewesen ein Händler für die Edelleute beim Pferdekauf und bei andern Dingen. Wenn die Polizei mit dem Inspektor hat sprechen wollen, warum soll sie's nicht tun? Die von Tarow sind schlaue Leute, sie wissen, was sie haben zu tun und was sie haben zu reden.« So sprach der Wirt mit großer Zungenfertigkeit, aber seine Augen und der Ausdruck seines Gesichtes sagten etwas ganz anderes.[528]

»Ihr habt einen Verdacht«, rief Anton, den Wirt fixierend.

»Soll mich Gott bewahren vor allem Verdacht«, fuhr der Wirt erschrocken fort. »Und Herr Wohlfart, wenn ich mir erlauben darf, Ihnen zu sagen meine Meinung, wozu wollen auch Sie haben einen Verdacht auf jemanden? Sie werden genug zu tun haben hier im Gut und werden brauchen die Edelleute mehr als einmal. Wozu wollen Sie sich Feinde machen ohne Nutzen? Es ist hier das Land, wo die Herren auf einen Haufen reiten und wieder auseinander, und ihre Köpfe zusammenstecken und dann wieder auseinander. Wer sich nicht darum kümmert, der handelt am klügsten. «

Als der Wirt mit einem Nachtgruß das Haus verlassen hatte, sagte Anton finster zu seinem getreuen Gefährten: »Ich fürchte, daß nicht das Gut allein uns Sorge machen wird, sondern daß noch etwas anderes um uns vorgeht, wogegen wir beide mit allem Witz nichts ausrichten werden.«

Der dreiste Überfall brachte die ganze Gegend in Aufregung. Anton wurde in den nächsten Wochen einigemal nach Rosmin beschieden, seine Aussagen hatten keine Resultate, es gelang den Behörden nicht, die Täter zu ermitteln oder die Person des entführten Inspektors in ihre Gewalt zu bekommen.

Quelle:
Gustav Freytag: Soll und Haben. München 1977 bzw. 1978, S. 508-529.
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