[Will ich dich doch gerne meiden]

[225] Will ich dich doch gerne meiden,

Gieb mir nur noch einen Kuß,

Eh ich sonst das Lezte leiden

Und den Ring zerbrechen muß.

Fühle doch die starcken Triebe

Und des Herzens bange Qual!

Also bitter schmeckt der Liebe

So ein schönes Henckermahl.


Las dich etwas Beßers küßen,

Alles gönn und wüntsch ich dir;

Aber frag auch dein Gewißen,

Dieser Zeuge bleibet mir.

Lerne doch nur weiter dencken:

Dörft es dich auch einmahl reun?

Dörft auch mein verstoßnes Kräncken

Deines Ehstands Hölle seyn?


Sieh, die Tropfen an den Bircken

Thun dir selbst ihr Mitleid kund;

Weil verliebte Thränen würcken,

Weinen sie um unsern Bund.

Diese zährenvolle Rinden

Rizt die Unschuld und mein Flehn,

Denn sie haben dem Verbinden

Und der Trennung zugesehn.


Dieses rührt die todten Bäume,

Dich, mein Kind, ach, rührt es nicht;

Aber daß ich mich noch säume,

Da dein Scheiden gar nichts spricht,

Gönnt mir doch, ihr holden Lippen,

Eine kurze gute Nacht,[226]

Eh der Traum an solchen Klippen

Mein Gemüthe scheitern macht.


Gute Nacht, ihr liebsten Armen!

Meiner Glieder Müdigkeit

Wird nicht mehr in euch erwarmen;

Ach, wie quält die alte Zeit!

Gute Nacht, ihr schönsten Brüste,

Macht nun andre Hände voll;

Jezo geh ich in die Wüste,

Wo mein Elend schlafen soll.


In den Wäldern will ich irren,

Vor den Menschen will ich fliehn,

Mit verwaisten Tauben girren,

Mit verscheuchtem Wilde ziehn,

Bis der Gram mein Leben raube,

Bis die Kräfte sich verschreyn,

Und da soll ein Grab voll Laube

Milder als dein Herze seyn.


Kan ich dich an Treu beschämen,

Will ich noch dein Conterfey

In dem Tod ans Herze nehmen,

Daß er recht beweglich sey;

Sieht es niemand von den Leuten,

Sieht es doch der Himmel an,

Der dich bey gelegnen Zeiten

Wohl damit noch strafen kan.


Wirstu einmahl durch die Sträuche

Halb verirrt spazieren gehn,

Ey, so bleib bey meiner Leiche

Nur mit andern Augen stehn;

Zeige sie dem neuen Schaze,

Der dir das Geleite giebt,

Und vermeld ihm auf dem Plaze:

Dieser hat mich auch geliebt.
[227]

Ach, wo bleibt ihr theuren Schwüre?

Ach, wo ist dein treuer Sinn,

Den ich schmerzlicher verliere,

Als ich selbst gebohren bin?

Nimm das lezte Sehnsuchtszeichen;

Nun, mein Kind, besinne dich!

Dieses kan dich nicht erweichen,

Nimm es und gedenck an mich.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 225-228.
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