Aus den Salzburger Tagen

[235] Spätsommer 1867.


Deutsches Volk, was säumst du länger?

Schau, wie deinem alten Dränger

Schon vor deiner Eintracht graust,

Wie er mit beklemmten Sinnen

Diese Zinnen

Steigen sieht, die du erbaust.


Und du wolltest von dem Werke

Deines Wachstums, deiner Stärke

Lassen, nun es halb gereift,

Weil mit eingezogner Klaue

Dir der Schlaue

Seinen alten Lockruf pfeift?


Freilich möcht' er dich zerspalten;

Kennt er doch den Spruch der Alten:

Leicht gebietet, wer entzweit.

Freilich drum in die Gemüter

Deiner Hüter

Sät er Argwohn, Haß und Neid.


Aber laß dich nicht verwirren!

Achte seinen Rat dem Girren

Jener ersten Schlange gleich![235]

Baue weiter unverdrossen!

Ihm zum Possen

Bau' es aus, das deutsche Reich!


Stämme wälz' und Quaderstücke

An den Main und wirf die Brücke

Über den entsühnten Strom

Und, den dort die Fluten waschen,

Aus den Aschen

Richt' empor den Kaiserdom!


Und zur Antwort auf die leise

Buhlende Sirenenweise,

Die so lind sich wiegt im West,

Laß verkünden seine Glocken

Mit Frohlocken

Deines Schirmvogts Krönungsfest!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 235-236.
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