Ein Ruf über den Main

[236] Oktober 1867.


Nun steht das Haus gegründet

Und prangt im Frührotschein,

Nun ist das Wort verkündet:

Kommt her und tretet ein!

Kein Fremdling soll euch hindern,

Kein Machtspruch fern und nah,

Nach allen ihren Kindern

Verlangt Germania.


Ihr sollt nicht länger tragen

Der Waisen schwarz Gewand,

Ihr sollt nicht fürder fragen:

Wo ist das Vaterland?

Den Hort euch zu gewinnen,

Der jüngst ein Traum noch war,

Reicht nur in treuen Sinnen

Die Hand den Brüdern dar![236]


Ihr raschen Alemannen,

Glückauf! Mit Jubelton

Aus eures Schwarzwalds Tannen

Antwortend grüßt ihr schon.

Ihr habt die heil'ge Lohe

Der Freiheit stets genährt,

Nun schürt getreu die hohe

Auf größerm Opferherd!


Was säumt ihr ernsten Schwaben,

Vorkämpfer einst im Reich?

Wohl ist an Geist und Gaben

Kein Stamm dem euren gleich;

O laßt den Schatz nicht rosten,

Ihr sollt auch überm Main,

Wo Lichtgedanken sproßten,

Die Bannerträger sein.


Ihr löwenherz'gen Bayern,

Ihr Franken klug und kühn,

Wie lange wollt ihr feiern,

Wo Deutschlands Ehren blühn?

Den Arm, erprobt im Schlagen,

Den Blick voll Weltverstand,

Wollt ihr sie träg versagen

Dem großen Vaterland?


Empor! Ihr hofft vergebens,

Ein Volk im Volk zu sein,

Schon reißt der Strom des Lebens

Die dumpfen Schranken ein.

Vertraut euch seinen Wogen

Und sucht ein besser Heil!

Allmächtig angezogen

Zum Ganzen strebt der Teil.


Wohl habt ihr's oft vernommen,

Vom Eberhard das Lied,

Wie er, dem Reich zum Frommen,

Sein stolzes Herz beschied[237]

Und großen Sinns die Krone,

Darnach er selbst begehrt,

Des Nordens starkem Sohne

Darbot am Vogelherd.


O laßt sein Bild euch mahnen

Und zieht aus Süd und West,

Zieht hin mit euren Fahnen

Zum schönsten Sühnungsfest

Und bringt, die uns verloren,

Doch nie vergessen war,

Dem Haupt, das Gott erkoren,

Die Kaiserkrone dar!

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 236-238.
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