Der Ulan

[251] Oktober 1870.


Frühmorgens um vier, eh die Hähne noch krähn,

Da sattelt sein Roß der Ulan

Und reitet, den Feind und das Land zu erspähn,

Den Waffengenossen voran.


Hinjagt er durchs Blachfeld und pirscht durch den Forst,

Hoch flattert sein Fähnlein im Wind,[251]

Und er lugt von der Höh' wie der Falke vom Horst

Und wählt sich die Straße geschwind.


In das sonnige Städtchen da sprengt er hinein,

Am Rathaus hält er in Ruh':

»Herr Maire, nun schenkt mir vom schäumenden Wein

Und ein Frühstück gebt mir dazu!


Und schafft mir die prächtigen Rinder daher,

Die am Tor auf den Weiden ich sah,

Und Hafer für zwanzig Schwadronen, Herr Maire,

Denn die Preußen, die Preußen sind da.«


Hei lustige Streife! Hei köstlicher Scherz,

Wenn der Maire seine Bücklinge macht!

Doch freudiger wächst dem Ulanen das Herz,

Wenn die Schlacht durch die Ebene kracht;


Wenn, die Zügel verhängt und die Lanz' in der Faust,

Das Geschwader mit stiebendem Huf

Auf den eisernen Rechen des Fußvolks braust

Unter schallendem Hurraruf.


Wohl spein die Haubitzen Verderben und Tod,

Wohl deckt sich mit Leichen die Bahn,

Und die Luft wird wie Blei, und die Erde wird rot,

Doch vorwärts stürmt der Ulan.


Und rinnt auch das Blut von den Schläfen ihm warm:

Durch Geknatter und Kugelgesaus

Kühn setzt er hinein in den dichtesten Schwarm

Und holt sich den Adler heraus.


Und »Viktoria« schallt's durchs Getümmel herauf,

Schon wanken die feindlichen Reihn,

Und das Wanken wird Flucht, und die Flucht wird Lauf,

Der Ulan, der Ulan hinterdrein.


Hinterdrein durch den Fluß, wo die Brücke verbrannt,

Durch das Dorf, das der Bauer verließ,

Mit Gott für König und Vaterland

Hinterdrein, hinterdrein bis Paris.


Dort gibt's einen Tanz noch im eisernen Feld,

Bis der Franzmann den Atem verliert,[252]

Und Wilhelm der Sieger, der eisgraue Held,

Im Louvre den Frieden diktiert.


Doch wenn dann die blutige Arbeit getan,

Und die Stunde der Heimkehr erschien,

Wie reitet so stattlich im Glied der Ulan

Am Einzugstag in Berlin!


Da steht an den Linden die rosigste Dirn',

Und sie jubelt vor Stolz und vor Lust:

»O wie lieb' ich dich erst um die Narb' auf der Stirn

Und das Eiserne Kreuz auf der Brust!«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 251-253.
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