Drei Vögel

[242] September 1869.


Ich stand auf hohem Berge

Und schaut' hinab ins Tal,

Drei Vögel sah ich fliegen

Im roten Abendstrahl.


»Was bringst du, schwarzer Rabe?

Du kommst aus Welschland her –«

»Ich sah einen greisen Fischer,

Der warf sein Netz ins Meer.


Er warf's mit stolzen Sinnen,

Des reichen Fangs gewiß,

Da ging im Grund ein Brausen,

Das riesige Netz zerriß.«[242]


»Was bringst du, grauer Habicht?

Du fliegst vom Seinestrand –«

»Ich sah einen kranken Leuen,

Der sich in Ängsten wand:


›Weh mir, es wankt der Boden,

Und ich bin alt und siech!

Was wähl' ich, mich zu retten,

Freiheit oder Krieg?‹«


»Was bringst du, weiße Taube?

Du schwangst dich auf am Main –«

»Ein schwarzes Wetter sah ich

Vergehn in Sonnenschein.


Ein Regenbogen wölbte

Sich glorreich überm Strom,

Und wachsend aus den Trümmern

Stieg auf der Kaiserdom.«

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 242-243.
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