Der Bildhauer des Hadrian

[90] So steht nun schlank emporgehoben

Der Tempelhalle Säulenrund;

Getäfelt prangt die Kuppel droben,

Von buntem Steinwerk glänzt der Grund.

Und hoch aus Marmor hebt sich dorten

Das Bild des Donnrers, das ich schuf;

Du rühmst es, Herr, und deinen Worten

Folgt tausendstimm'ger Beifallsruf.


Und doch, wie hier vor meinen Blicken

Das eigne Werk sich neu enthüllt,

Mich selber will es nicht erquicken,

Und fast wie Scham ist, was mich füllt.

Ob nichts am hohen Gleichmaß fehle,

Ob jedem Sinn genug getan:

Kein Schauer quillt in meine Seele,

Kein Unnennbares rührt mich an.


O Fluch, dem diese Zeit verfallen,

Daß sie kein großer Puls durchbebt,

Kein Sehnen, das, geteilt von allen,

Im Künstler nach Gestaltung strebt,

Das ihm nicht Rast gönnt, bis er's endlich

Bewältigt in den Marmor flößt

Und so in Schönheit allverständlich

Das Rätsel seiner Tage löst!


Wohl bänd'gen wir den Stein und küren,

Bewußt berechnend, jede Zier,

Doch, wie wir glatt den Meißel führen,

Nur vom Vergangnen zehren wir.[90]

O trostlos kluges Auserlesen,

Dabei kein Blitz die Brust durchzückt!

Was schön wird, ist schon dagewesen,

Und nachgeahmt ist, was uns glückt.


Der Kreis der Formen liegt beschlossen,

Die einst der Griechen Geist beseelt;

Umsonst durchtasten wir verdrossen

Ein Leben, dem der Inhalt fehlt.

Wo lodert noch ein Opferfunken?

Wo blüht ein Fest noch, das nicht hohl?

Der Glaub' ist, ach, dahingesunken,

Und toter Schmuck ward sein Symbol.


Sieh her, noch braun sind diese Haare,

Und nicht das Alter schuf mich blaß;

Doch gäb' ich alle meine Jahre

Für einen Tag des Phidias;

Nicht weil des Volks verstummend Gaffen,

Der Welt Bewundrung ihm gelohnt;

Nein, weil der Zeus, den er geschaffen,

Ihm selbst, ein Gott, im Sinn gethront.


Das war sein Stern, das war sein Segen,

Daß ihn mit ungebrochnem Flug

Der höchsten Urgestalt entgegen

Der Andacht heil'ger Fittich trug.

Er durft' im Reigen der Erkornen

Voll Glanz noch den Olympos sehn,

Indes wir armen Nachgebornen

In götterloser Wüste stehn.


Da uns der Himmel ward entrissen,

Schwand auch des Schaffens himmlisch Glück;

Wohl wissen wir's, doch alles Wissen

Bringt das Verlorne nie zurück.

Und keine neue Kunst mag werden,

Bis über dieser Zeiten Gruft

Ein neuer Gott erscheint auf Erden

Und seine Priesterin beruft.

Quelle:
Emanuel Geibel: Werke, Band 2, Leipzig und Wien 1918, S. 90-91.
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