Der Schäfer und die Sirene

[185] Ein Schäfer aus der goldnen Zeit,

In seinem stillen Hirtenstande

Ganz Ruhe, ganz Zufriedenheit,

Trieb öfters an des Meeres Strande,

Und was er sang, war Fröhlichkeit.

Ihn rührten keine Schäferinnen.[185]

Gefiel ihm Daphne ja zuweilen bei dem Spiel:

So konnte sie doch nichts gewinnen,

Als daß sie flüchtig ihm gefiel.

Ein seltner Fall, daß ohne Schöne

Ein junger Schäfer glücklich war!

Doch seinem Herzen droht Gefahr.

Welch eine reizende Sirene

Schwimmt dort! Kaum wird er sie gewahr:

So fühlt sein Herz Lieb' und Gefahr.

Er steht und will nicht stehen bleiben,

Erstaunt, blickt auf die Sängerin,

Will abwärts mit der Herde treiben

Und treibt nur mehr ans Ufer hin.


Nun irrt allein, ihr guten Herden!

Der Schäfer hat für euch itzt keine Zeit.

Er klagt durch Lieder und Gebärden

Der Schönen seine Zärtlichkeit;

Verspricht ihr alle seine Herden

Und alles Glück der goldnen Zeit.

Sie, wohl in ihrer Kunst erfahren,

Hört nichts von dem, was er verspricht,

Scherzt mit der See, putzt an den Haaren,

Als sähe sie den Schäfer nicht,

Und nötigt ihn durch schlaue Blicke,

Den Antrag ihr noch oft zu thun.

»Ich«, singt sie, »bin nicht mein. Neptun bestimmt mein Glücke;

Und wenn ich dich nicht flüchtig nur entzücke:

So geh' und bitte den Neptun.«

Er bat. »Nein«, sprach der Gott der Meere,

»Wenn ich die Bitte dir gewähre,

Gewähr' ich dir dein Unglück nur.«

Der Schäfer schleicht betrübt nach seiner Hütte;

Nun lacht ihm weiter keine Flur.

So oft Neptun am Strande fuhr,

So wiederholt er seine Bitte.

»Neptun! So soll das Meer die treffliche Gestalt,

Die mich entzückt, in seinen Schoß begraben?« –[186]

»Nein«, rief der Gott, »du sollst sie haben;

Denn du verlangst sie mit Gewalt.«


Wie hurtig schwamm nunmehr die Schöne

Dem Ufer zu! Wie schön sang sie, wie zauberisch!

Er reicht ihr seine Hand. »Komm', göttliche Sirene!« –

Doch welch Entsetzen! Seine Schöne,

Sein Liebling, war halb Mensch, halb Fisch.

Mit Zittern floh Damöt vom Meere

Und gab nachher der Flur sehr oft die Lehre,

Daß unser liebster Wunsch oft große Torheit wäre.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 185-187.
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