Der Bettler

[55] Ein Bettler kam mit bloßem Degen

In eines reichen Mannes Haus

Und bat sich, wie die Bettler pflegen,

Nur eine kleine Wohltat aus.

»Ich«, sprach er, »kenn' Ihr christlich Herze;[55]

Sie sorgen gern für andrer Heil,

Und nehmen mit gerechtem Schmerze

An Ihres Nächsten Elend teil.

Ich weiß, mein Flehn wird Sie bewegen!

Sie sehn, ich fordre nichts mit Unbescheidenheit;

Nein, ich verlasse mich (hier wies er ihm den Degen,)

Allein auf Ihre Gütigkeit.«


Dies ist die Art lobgieriger Skribenten,

Wenn sie um unsern Beifall flehn;

Sie geben uns mit vielen Komplimenten

Die harte Fordrung zu verstehn.

Der Autor will den Beifall nicht erpressen;

Nein, er verläßt sich bloß auf unsre Billigkeit;

Doch daß wir diese nicht vergessen,

So zeigt er uns zu gleicher Zeit

In beiden Händen Krieg und Streit.

Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 55-56.
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