Die Liebe der Feinde

[275] Nie will ich dem zu schaden suchen,

Der mir zu schaden sucht.

Nie will ich meinem Feinde fluchen,

Wenn er aus Haß mir flucht.


Mit Güte will ich ihm begegnen,

Nicht drohen, wenn er droht.

Wenn er mich schilt, will ich ihn segnen;

Dies ist des Herrn Gebot.


Er, der von keiner Sünde wußte,

Vergalt die Schmach mit Huld,

Und litt, so viel er leiden mußte,

Mit Sanftmut und Geduld.


Will ich, sein Jünger, widerschelten,

Da er nicht widerschalt?

Mit Liebe nicht den Haß vergelten,

Wie er den Haß vergalt?


Wahr ist's, Verleumdung dulden müssen,

Ist eine schwere Pflicht.

Doch selig, wenn ein gut Gewissen

Zu unsrer Ehre spricht!


Dies will ich desto mehr bewahren;

So bessert mich mein Feind,

Und lehrt mich, weiser nur verfahren,

Indem er's böse meint.


Ich will mich vor den Fehlern hüten,

Die er von mir ersann;

Und auch die Fehler mir verbieten,

Die er nicht wissen kann.
[275]

So will ich mich durch Sanftmut rächen,

An ihm das Gute sehn,

Und dieses Gute von ihm sprechen;

Wie könnt er länger schmähn!


In seinem Haß ihn zu ermüden,

Will ich ihm gern verzeihn,

Und als ein Christ bereit zum Frieden,

Bereit zu Diensten sein.


Und wird er, mich zu untertreten,

Durch Güte mehr erhitzt:

Will ich im stillen für ihn beten,

Und Gott vertraun; Gott schützt.


Quelle:
Christian Fürchtegott Gellert: Werke, Band 1, Frankfurt a.M. 1979, S. 275-276.
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