NEUNTE FOLGE · 1910

FÜR DIE KUNST

[48] Wir haben an dieser stelle häufig dargetan dass der für den Schaffenden selbstverständliche leitspruch ›die Kunst für die Kunst‹ auch vom Betrachtenden aus nicht etwa auf eine ausschliessliche übung in gewaltstückchen der werkstatt und in schmuckhaften wortmosaiken zweckte · was eine verkennung der mittel bewiese · sondern noch eine andere bedeutung in sich schloss. Diese äusserste sorge bei der feilung der gefüge · dieses ringen nach der höchsten formalen vollendung im werke · diese liebe für das Runde1 · das in sich vollkommene · das nach allen seiten hin richtige · diese ablehnung des nur triebhaften skizzenhaften nicht-ganz-gekonnten · des halb überschüssigen halb unzulänglichen · das so lange ein fehler heimischer leistung war: diese liebe und diese ablehnung setzen mehr voraus als eine formel – nämlich eine geistige haltung ja eine lebensführung. Wenn eine ganze gruppe von deutschen menschen · ob auch in beschränkter zahl und auf beschränktem gebiet · jahrzehnte hindurch trotz aller anfeindungen und misskennungen in diesem sinne spricht und handelt · ja ihr höchstes bestreben sieht · so kann daraus für die gesamte bildung und für das gesamte leben mehr wirkung ausströmen als aus einer noch so staunenswerten sachlichen entdeckung oder einer neuen ›weltanschauung‹.


DAS HELLENISCHE WUNDER

Wenn unsre führenden geister · voran Goethe · sich vor dem hellenischen wunder niederwarfen und die griechische kunst · besonders die bildwerke · als höchstes ziel betrachteten · so muss dahinter mehr verborgen sein als die erklärung dass südliche heiterkeit und wohlgefällige form sie so eingenommen hätten dass sie darüber sogar die kräfte und leistungen ihres eignen volkes geringgeschäzt. Sie kamen vielmehr zur erkenntnis dass hier für die ganze menschheit ein[48] unvergleichbares · einziges und vollkommenes eingeschlossen läge dem nachzueifern alles aufgeboten werden müsse und dass die bestrebungen des so beliebten fortschrittes vorerst einmal in diese bahn zu lenken seien. Verglichen mit den Griechen mussten ihnen die leute des eignen volkes trotz all seiner gewaltigen gaben fast wie zerrbilder vorkommen. Freilich verlangten diese führenden geister nicht ein äusserliches nachzeichnen das zu dem gerügten Klassizismus führte · sondern eine durchdringung · befruchtung · eine Heilige Heirat. Alle erläuterungen weshalb sie die Griechen in solcher höhe sahen · alle untersuchungen welche ganz besondren inneren beschaffenheiten und äusseren umstände gerade diesen insulanern den vorrang vor allen völkern verschafft hätten · reichen nicht aus. Hinter den erklärungen geschichtlicher · schönheitkundiger und persönlicher art liegt der glaube dass von allen äusserungen der uns bekannten jahrtausende der Griechische Gedanke: ›der Leib · dies sinnbild der vergänglichkeit · DER LEIB SEI DER GOTT‹ weitaus der schöpferischste und unausdenkbarste · weitaus der grösste · kühnste und menschenwürdigste war · dem an erhabenheit jeder andre · sogar der christliche · nachstehn muss.


TOTE UND LEBENDE GEGENWART

Goethe · der gegenwärtigste · hätte auf die vorhaltung dass seine antike vorliebe eine flucht in verklungene zeiten und ein wegrücken von der gegenwart bedeute vermutlich geantwortet: ›lhr sogenannten Modernen begeht den fehler Hellenentum wie Christentum als geschichtliche · ein für allemal dagewesene überwundene zustände aufzufassen und verkennt dass es sich dabei um urseinsformen handelt die nur von ihrer höchsten sinnbildlichen gestalt den namen bekommen haben. Griechheit · so hoffe ich · wird es immer geben wie es auch einen Katholizismus schon gab vor der Kirche.‹ Als ganz unerträglich aber würde er die zumutung empfunden haben in der heutigen Welt der Oberflächen die einzige gegenwart und wirklichkeit zu sehen. Er hätte vielmehr das was heut als das einzig fruchtbare und zukunftsvolle gilt für durchaus scheinhaft gehalten und nicht für eine urseinsform. Hätte man ihn aber gezwungen dafür eine[49] benennung zu finden · so würde sie selbst bei seinen grössten verehrern entrüstung und entsetzen hervorgerufen haben. Er hätte gelacht wenn ihm die heutigkeit als ›das Leben‹ gepriesen worden wäre und hätte auf die schatten gezeigt ›deren einer mehr wert ist als dies ganze geschlecht‹. Sein seherblick hätte aber auch erkannt wo mitten in der gegenwart · ganz von ihr unberührt · sich ein ›leben‹ · ein glühender kern gebildet hätte.


DIESE UND JENE WELT

Wenn wir heute aus den verschiedensten geistigen kreisen vorschläge vernehmen wie eine bildungseinheit (kultur) zu erzeugen oder zu erhöhen sei · so ist daran das bemerkenswerte dass man von der gepriesenen herrschaft des fortschritts (die man später vielleicht weniger milde die des raubbaus nennen wird) die erfüllung zu erwarten aufhört und dass überall die angst durchklingt als ob in dieser bestgeordneten aller welten ein wesentliches nicht versorgt sei und ein edelstes verloren gehe. Die minder geistigen glauben dass eine verbesserung an irgendeiner ecke dieser welt zum erfolg führe – was sich aber nur als ein vermehren oder kurzes fristen der nöte herausgestellt hat. Die höher geistigen wissen dass das heilmittel nur aus einer andren welt geholt werden könne · sie vergessen aber dass von dieser in jene nichts übergeleitet wird ohne schon auf dem gang dahin sein wesen zu verlieren und damit heil- und fruchtlos zu werden. Die erträumte wirkung kann nur von einem ding ausgehen das jahrzehntelang ja vielleicht ein jahrhundert lang davor gesichert ist einen gegenstand fürs allgemeine warenhaus abzugeben. Von dieser gegensätzlichen welt führt kein weg zurück. Sie ist in sich vollkommen geordnet und folgerichtig: nur dass sie ohne innere wurzeln ist und den überschuss der früheren zeiten schmarotzerhaft benuzt solang es eben reicht. Sie ist ganz maschinell · ganz schemenhaft · ganz spiegelnd und unfähig ein eignes leben zu erzeugen. Späteren geschlechtern wird es staunen erwecken wie man in diesem zeitalter der allbildung · allaufklärung und allfertigkeit oben und unten · rechts und links · hüben und drüben glaubte wirtschaften zu können mit vernachlässigung der ersten lebensgesetze.[50]


VERBORGNE UND DEUTEL-KÜNSTE

Obwol sie im scheinbaren gegensatz zu den lang regierenden grobstofflichen bestrebungen entstanden · sind doch jene ergebnisse der ›tätigen mystik‹ nichts artverschiedenes sondern nur äusserste folgerungen des so hart bekämpften – wie uns auch dünken mag dass jene platt vernünftelnden anglo-amerikanischen grundsätze und nützlichkeitslehren ›des angewandten verstandes‹ dieselbe gesinnung tragen als die neusten jenseitlichen traktate über ›angewandte seele‹.

Die gefahr dieser künste liegt darin dass sie dem menschen die wertvolle menschliche haltung entbehrlich machen · dass sie die fruchtbare anstrengung der fähigkeiten verleiden · dass sie mit billigen heilsvorschriften und handhaben leichtere erlangung von glück und macht versprechen · dass sie gerade die gläubigkeit dazu verführen mit erfundnem nachzuhelfen wo die erscheinungen versagen und so zum lügen erziehen.

›Sie sind‹ wie einer unsrer freunde sagt ›nicht alt gewordner aber – glaube sondern frühreife erkenntnis · sie gehören nicht zum absterbenden mittelalter sondern zur erwachenden neuzeit – sie glauben und übertreiben nur was die moderne wissenschaft auch glaubt und sucht.‹


NICHT-SINN DER SCHLAGWORTE

(Dekadente · Lebenfremde · Neuromantiker · Ästheten)


Man hat in den lezten jahrzehnten mehrfach benennungen auftauchen sehen die trotz ihres verwirrenden viel- oder widersinns geläufig wurden und dann fast von einem bestimmten tag ab verschwanden.

Dekadente: Die anwendung verlor sich als man entdeckte dass damit die gesunden und beinah vierschrötigen erscheinungen bezeichnet wurden und zugleich hinfällige und kränkliche Des Esseintes. Dazu kam noch dass es in Deutschland nie einen wirklichen Dekadenten gegeben hat.

Lebenfremde: nannte man eine zeitlang alle die vom getriebe der literatur sich fernhielten – was doch eine selbstverständliche forderung für jeden gutgearteten menschen sein sollte. Das wort hörte auf[51] als man einsah dass die scheltenden weniger von der welt wussten als die gescholtenen und dass ›ins leben gehen‹ nur bedeutete: geschäfte machen.

Neuromantiker (gegensatz zu naturalisten): hiess man alle die ihre stoffe nicht aus pöbel gosse und alltag nahmen. Heute versagt das wort weil jezt auch die ›naturalistischen‹ dichter ›neuromantische‹ stoffe und die ›neuromantischen‹ dichter ›naturalistische‹ stoffe behandeln.

Ästheten: Nennt man Ästheten alle die gegenüber der plumpen tüdesken manier der unkünstlerischen naturalistischen jahrzehnte sich einer besseren haltung befleissigen · geschmackvollere forderungen an körper und gegenstände stellen und mit ernst nach einer rhythmischen durchbildung ihres lebens und ihres werkes streben so begrüssen wir jeden Ästheten und nehmen ihn in unsre mitte auf. Nennt man aber Ästheten die mit falsch angenommnen formen und falsch abgelernten feinheiten ihren talentmangel verbergen · die jede meinung sowie ihr gegenteil vertreten um bald in diesen bald in jenen farben zu schillern · die heute die allzu willfährige käuflichkeit der winkelblätter zur erhöhung des eignen nichts bestechen und morgen die maske des einsamen tragen · die ständig den geschmack und die vornehmheit im mund führen · aber in jeder lage wo sie nicht heucheln können den plattesten und niedrigsten sinn verraten: nennt man dies gemisch von zur schau getragener feinheit und eleganz mit glaubenslosigkeit ohnmacht und betrug die Ästheten · so muss jede bewegung sich über ihre gesundheit freuen · wenn sie solch widerliche auswüchse nicht aufkommen lässt oder baldigst abstösst.

Fußnoten

1 Das oft dasselbe wie das ›kosmische‹ ist.


Quelle:
Einleitungen und Merksprüche der Blätter für die Kunst. Düsseldorf, München 1964, S. 48-52.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Knigge, Adolph Freiherr von

Die Reise nach Braunschweig

Die Reise nach Braunschweig

Eine Reisegruppe von vier sehr unterschiedlichen Charakteren auf dem Wege nach Braunschweig, wo der Luftschiffer Blanchard einen spektakulären Ballonflug vorführen wird. Dem schwatzhaften Pfarrer, dem trotteligen Förster, dem zahlenverliebten Amtmann und dessen langsamen Sohn widerfahren allerlei Missgeschicke, die dieser »comische Roman« facettenreich nachzeichnet.

94 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang. Sechs Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Michael Holzinger hat sechs eindrucksvolle Erzählungen von wütenden, jungen Männern des 18. Jahrhunderts ausgewählt.

468 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon