Sechszehnter Brief.
[125] Fortsetzung.

Schade, werden Sie am Schlusse meines letzten Briefes gedacht haben, daß ein so vollkommnes Genie einen so fehlerhaften Geschmack haben mußte!

Und dreymal Schade, setze ich hinzu, daß es nicht anders seyn konnte, wenn wir ihn beständig nur auf uns, und auf unser Jahrhundert beziehen. – Diese Chorde ist schon oft berührt. Da ich mir jedoch einbilde, (wollen Sie mir[125] ein so unbedeutendes Selbstlob wol für eine Eitelkeit anrechnen?) daß nicht ein Jeder Schakespearn so liest – noch vielleicht (immer eitler!) ein Jeder ihn so lesen könne, als Ihr Freund L.; so lassen Sie uns doch versuchen, ob sich über diese Materie nicht etwas sagen lasse, was just ein Jeder nicht sagt.

Die Geschmacks-Fehler, die Schakespearn bey feinen und unpartheyischen Lesern vornämlich zur Last fallen, sind, nächst der Vernachlässigung des Costüme, das Gezierte, Spitzfindige, Zweydeutige und Uebertriebne, das so oft die nativam simplicitatem seines gewöhnlichen Ausdrucks zu überschwemmen scheint. Ueber den ersten Punkt bin ich mit diesen Lesern gleich einig; er ist keiner Rechtfertigung fähig1. In Ansehung des zweyten weiß Pope keine bessere Entschuldigung für ihn zu finden, als daß er »genöthigt war, dem schlechtesten Theile des Volkes gefällig zu seyn, und in der schlimmsten Gesellschaft zu leben«. – Der scharfsinnige Lord, den ich schon zweymal angeführt habe, ist der Meynung, »er habe weder in seiner eignen, noch in irgend einer lebenden Sprache ein Muster von Gesprächen vor sich gehabt, die sich fürs Theater geschickt hätten; wenn er irgendwo unter sich selbst falle, so sey es in Scenen ohne Leidenschaft; indem er da strebt, sein Gespräch über den Ton des gemeinen Umgangs zu erheben, verfalle er in verwickelte Gedanken, und in einen dunkeln Ausdruck.« –

So viel ich von der Sache begreife, bedarf es keiner dieser Ausflüchte, so bald man sich in das Genie des Dichters setzt, das kein höheres Lob kannte, als die Natur eines jeden Gegenstandes nach den kleinsten Unterscheidungszeichen zu treffen. Seine Wortspiele legt er fast[126] beständig nur dem schlechtesten oder lustigsten Theile seiner Theater-Personen in den Mund, weil es dieser Classe von Menschen, in allen Zeitaltern, vom Aristophanes und Plautus an, zur Natur geworden ist, sich diese Art des Witzes vorzüglich zuzueignen.

Daß dieß wirklich Schakespears Meynung war, erfahren wir gelegentlich vom Lorenzo im Merchant of Venice:


»How every fool can play upon the world! I think, the best grace of wit will shortly turn into silence, and discourse grow commendable in none but parrots. – Good Lord, what a wit-snapper are you. – Yet more quarrelling with occasion? wilt thou shew the whole wealth of thy wit in an instant? I pray thee, understand a plain man in his plain meaning. –«


O dear discretion, how his words are suited!

The fool hath planted in his memory

An army of good words; and I do know

A many fools that stand in better place,

Garnish'd like him, that for a tricksy word

Defy the matter –


Hier hätte ich die vortreflichste Gelegenheit, dem Eiferer Schakespear einen glanzvollen Standort anzuweisen, ihn für einen großen Beförderer des guten Geschmacks, für einen Reformator des falschen Witzes auszugeben, und ihn bald mit Longin, bald gar mit – Gottscheden zu vergleichen. Aber ich bin saumselig genug, diese herrliche Veranlassung nicht zu nutzen, und ganz kaltsinnig anzumerken, daß es hier eben so sehr in Lorenzos Charakter war, über Wortspiele zu spotten, als in Launcelots, Wortspiele zu machen. Wie würden wir es sonst erklären, daß der Dichter an andern Stellen, wo er der Mühe, Wortspiele zu erfinden, gar hätte überhoben seyn können, so freygebig damit ist? Ich denke, es gieng ihm ziemlich, wie dem muntern Consul, dem Verfasser des Brutus, oder wie Swiften, der in einer eignen Art of punning den Unwitz der Wortspiele aus einander setzte, und doch selbst vielleicht der größte punster in England war.[127]

Und, ohne so viel Umschweife zu machen, wer könnte auch wol läugnen, daß es Wortspiele giebt, die wenigstens eben so scharfsinnig sind, als das witzigste bon mot in einer französischen Biographie?


Mantua vae miserae nimium vicina Cremonae!


Dieser correcte Hexameter des Virgil, den der Dechant von Dublin in ein Wortspiel travestirte, als ein Frauenzimmer mit ihrem Manteau eine Cremoneser-Geige vom Nagel riß, war, wenn wir auf die Grundsätze des Witzes zurückgehen, ein wahres bon mot von ächtem Witze.


– – Quae juga Dauniae

Non decolor avere caedes?


ist ein Motto vor einer Ode unsers Rammlers, und ein – Wortspiel. Der oberwähnte Tullius trägt kein Bedenken zu behaupten, daß Wortspiele sogar der ernsthaftesten Rede einen neuen Schwung geben. Ex ambiguo dicta vel argutissima putantur, sed non semper in ioco, saepe etiam in grauitate versantur. Ingeniosi enim videtur, vim verbi in aliud atque caeteri accipiant posse ducere.

Solchergestalt hätte ich also Gründe beygebracht. Sie über diesen wichtigen Punkt zu befriedigen; hoffentlich auch den sel. Schlegel, wenn er noch lebte, der über das Wortspiel des M. Antonius sehr ungehalten war, weil er dem luxuriösen Witze dieses dafür bekannten Römers nichts nachsehen wollte. Wie aber, wenn ich Ihnen einen klaren Beweis beybringe, daß Schakespears Lebens-Jahre gerade das güldene Alter der Wortspiele waren, und daß König Jakob, der affektirteste Sprecher von der Welt, nicht nur seinem Hofe, sondern sogar der Kanzel den Ton gab? Werden Sie Popen oder Wielanden noch immer glauben, daß Stellen dieser Art nur für den untersten Pöbel da stehn? Mein Gewährsmann ist der Doctor Zachary Grey, der uns aus den Predigten des Bischofs Andrews, des gelehrtesten Prälaten zu Schakespears Zeit, folgende Anthologie aufgehoben hat. Merken Sie sich zugleich, daß diese Predigten vor dem Könige gehalten worden: die erste über 1. Timoth. VI. 1.


[128] The mystery, hebt der Bischof an, here mentioned is the mystery of this feast (nämlich Christnacht), and this feast the feast of this mystery: for as at this feast God was manifested in the flesh, in that it is great mystery, it makes the feast great; in that is a mystery of godliness, it should likewise make it a feast of godliness great we grant, and godly too we trust: would God, as godly as great, and no more controversy of one than of the other.


Die zweyte über Ephes. I. 10.


Seeing the text is of seasons (gleichfalls Christnacht) it would not be out of seasons itself: and tho' it be never out of season to speak of Christ, yet Christ hath his seasons. Your time is always (says he John VII.), so is not mine; I have my seasons, one of which seasons is this, the season of his birth, by which all were recapitulated in heaven and earth, which is the season of the text, and so this a text of the season.


Und schließlich die dritte.


Upon a day of joy here is a text of joy, upon a day of joy for the King a text of a King in joy. For so we see there is in the text a King, and he joyful and glad – – And upon these two (nämlich auf die Befriedigung des Herzens und der Lippen) there is a sela. For these two, one would think, were able to content any. But this sela is no sela to God; he hath a sela, or an ela above this sela – and this is the praevenisti of his goodness. – Satisfie the lips; petite et dabitur, speak and speed. Satisfie the heart, ave et habe, wish and have. Not only open thy mouth, but enlarge thy heart never so wide, and I will fill it; this is able to satisfie David, I think, and make him sing sela, which is their διαπασῶν.
[129]

Der wichtigste Einwurf ist mir noch übrig – das Gezierte, Spitzfindige und Uebertriebne der diction, welches der englische Kunstrichter dem Mangel eines Musters für den theatralischen Dialog beymaß.

Ich habe Lust, mich bey diesen drey Punkten ein wenig aufzuhalten, weil meines Erachtens sehr viel darauf ankömmt, ob sie bey unserm Dichter so wesentliche Fehler sind, als Voltaire uns bereden will. Wenn ich für deutsche Nachahmer schriebe, so würde ich mich freylich lange bedenken, wie ich dieser Untersuchung eine Wendung geben sollte, daß sie keinen schädlichen Einfluß haben mögte; aber Sie und ich können, Dank sey unserer Trägheit, den Reizungen der knidischen Venus zusehn, ohne das Schicksal des jungen Menschen zu befürchten, dessen Lucian erwähnt2.

Es ist eine alte Anmerkung, daß jede Nation gewisse eigne Wendungen und Schattirungen in ihrer Sprache habe, die einer andern Nation fremde, zuweilen gar seltsam und affektirt vorkommen. – Diese alte Anmerkung, werden Sie sagen, gilt nichts in gegenwärtigem Falle: denn die gerügten Fehler sind es auch bey den Engländern. – Sehr wohl! Sie geben mir also doch zu, daß das, was blos durch die Verdeutschung einen Anstrich des Fremden und Seltsamen erhält, aus der Rechnung ausgestrichen werden müsse; und wenn nun diese Verdeutschung gar eine Wielandische ist? – Doch davon nachher ein Mehrers.

Eine eben so alte, aber nur selten gemachte Anmerkung ist diese – nicht, wie Sie vielleicht vermuthen, daß jede Classe von Menschen in einer Staatsverfassung (auch das[130] ist wahr, und wird mir zu statten kommen), sondern – daß jedes Stufen-Alter des menschlichen Lebens etwas besonders in der Art sich auszudrücken habe, das sich zum Theil auf die Folge-Herrschaft der Seelenkräfte gründet.

Doch wol hoffentlich eine wichtige Anmerkung? – noch wichtiger, wenn Sie sich erinnern, wie selten diejenige Reihe von Schriftstellern, deren Haupt-Objekt die Natur ist, sie bey ihren Ausarbeitungen zu Rathe gezogen haben? Schakespear kannte sie, und nutzte sie. Wenn Sie daran zweifeln, so vergleichen Sie folgenden Ausdruck des knäblichen, des jugendlichen, des männlichen und des hohen Alters.


Knabe.


– – – Mercy on me!

Methinks no body should be sad but I;

Yet I remember when I was in France,

Young gentlemen would be as sad as night,

Only for wantonness. By my christendom,

So were I out of prison, and kept sheep,

I should be merrry as the day is long,

And so I would be here, but that, I doubt,

My uncle practises more harm to me.

He is afraid of me, and I of him;

Is it my fault, that I was Geffrey's son?

Indeed it is not, and I would to heav'n,

I were your son, so you would love me, Hubert.


Must you with irons burn out mine eyes?

And will you? –

Have you the heart? – When Your head did but ake,

I knit my handkerchief about your brows;

(The best I had; a Princess wrought it me)

And I did never ask it you again;

And with my hand at midnight held your head;

And, like the watchful minutes to the hour,

Still and anon chear'd up the heavy time,

Saying, what lack you? and where lies your grief?

Or what good love may I perform for you?
[131]

– – – – Will you put out mine eyes?

These eyes, that never did nor never shall

So much as frown on you? – –

Ah, none, but in this iron age would do it!

The iron of itself, tho' heat red-hot,

Approaching near these eyes, would drink my tears;

And quench its fiery indignation,

Even in the matter of my innnocence;

Nay, after that consume away in rust,

But for containing fire to harm mine eye.

Are you more stubborn-hard than hammer'd iron?

Oh! if an angel should have come to me,

And told me, Hubert should put out mine eyes,

I would not have believ'd him –


Alas! what need you be so boist'rous-rough?

I will not struggle, I will stand stone-still.

For heavn's sake, Hubert, let me not be bound.

Nay, hear me, Hubert, drive these men away,

And I will sit as quiet as a lamb.

I will not stir, nor wince, nor speak a word,

Nor look upon the iron angrily:

Thrust but these men away, and I'll forgive you,

Whatever torment you do put me to.


Jüngling.


These happy masks, that kiss fair ladies' brows,

Being black, put us in mind, they hide the fair;

He that is strucken blind, cannot forget

The precious treasure of his eye-sight lost.

Shew me a mistress, that is passing fair,

What doth her beauty serve, but as a note,

Where I may read, who pass'd that passing fair?


O she doth teach the torches to burn bright.

Her beauty hangs upon the cheeks of night,

Like a rich Jewel in an Aethiop's ear;

Beauty too rich for use, for earth to dear!

So shews a snowy dove trooping with crows,

As yonder lady o'er her fellows shows.

The measure done, I'll watch her place of stand,

And, touching hers, make happy my rude hand.[132]

Did my heart love till now? Forswear it, sight,

I never saw true beauty, till this night.


Mann.


Between the acting of a dreadful thing,

And the first motion, all the interim is

Like a phantasma, or a hideous dream:

The genius, and the mortal istruments

Are then in council: and the state of man,

Like to a little Kingdom suffers then

The nature of an insurrection. – –

– – – O Conspiracy!

Sham'st thou, to shew thy dang'rous brow by night,

When Evils are most free? O then by day,

Where wilt thou find a cavern dark enough

To mask thy monstrous visage? Seek none, Conspiracy;

Hide it in smiles and affability:

For if thou put thy native semblance on,

Not Erebus itself were dim enough.

To hide thee from prevention.


Greis.


– – – I have five hundred crowns,

The thrifty hire I sav'd under your father,

Which I did store, to be my foster-nurse

When service shou'd in my old limbs lie lame,

And unregarded age in corners thrown;

Thake that; and He, that doth the ravens feed,

Yea, providently caters for the sparrow,

Be comfort to my age! Here is the gold,

All this I give you, let me be your servant.

Tho' I look old, yet I am strong and lusty:

For in my youth I never did apply

Hot and rebellious liquors in my blood,

Nor did I with unbashful forehead woo

The means of weakness and debility;

Therefore my age is as a lusty winter,

Frosty but kindly; let me go with you;

I'll do the service of a younger man

In all your business and necessities.


– – –
[133]

Master go on, and I will follow thee

To the last gasp with truth and loyalty.

From seventeen years till now almost fourscore

Here lived I, but now live here no more.

At seventeen years many their fortunes seek:

But at fourscore it is too late a week;

Yet Fortune cannot recompense me better,

Then to die well, an not my master's debtor.


Ich könnte diese Beyspiele häufen. Wer aber die feine Nuance in diesen vier Tiraden nicht wahrnimmt, nicht lebhaft empfindet, wie sehr in dem Charakter des Knaben das kindisch-rührende, wiewol spielende Raisonnement in der Diction selbst d.i. in derjenigen Diction, die das naive Bild der Seele ist, (denn von willkührlichen humoristischen Angewohnheiten, dergleichen Ben Jonson, Moliere u.a. genutzt haben, ist hier die Rede nicht) gegen den blühenden Ausdruck der Einbildungskraft in dem Charakter des Jünglings, gegen den starken Ausdruck der richtigen und vesten Denkungsart in dem Charakter des Mannes, und gegen den weichen Ausdruck der geprüften, itzt schwächern und zugleich weisern Seele des Greises absticht: – der mag immerhin mit den französischen Kunstrichtern Meteoren finden, wo die Natur in ihrer höchsten Schönheit erscheint, und die blöden Augen vest zudrücken. Sie, mein Freund, sind vor einem so unrühmlichen Verdachte sicher.

Schakespear unterschied eigentlich sieben Stufen-Alter, die ich Ihnen zur Abwechselung in dem meisterhaften Gemälde des grotesken Jacques beyfügen will.


– – – All the world's a Stage,

And all the men and women meerly Players,

They have their Exits and their entrances,

And one man in his time plays many parts:

His acts being seven ages. At first the infant

Mewling and puking in the nurse's arms;

And then the whining school-boy, with his satchel

And shining morning-face, creeping like snail[134]

Unwillingly to school. And then the lover,

Sighing like furnace, with a woeful ballad

Made to his mistress' eye-brow. Then a soldier,

Full of strange oaths, and bearded like the pard,

Jealous in honour, sudden and quick in quarrel,

Seeking the bubble, reputation,

Even in the canon's mouth. And then the Justice,

In fair round belly, with good capon lin'd,

With eyes severe, and beard of formal cut,

Full of wise saws and modern instances;

And so he plays his part. The sixth age shifts

Into the lean and slipper'd pantaloon,

With spectacles on nose, and pouch on side,

His youthful hose well sav'd, a world too wide

For his shrunk shank, and his big manly voice,

Turning again toward childish treble, pipes,

And whistles in his sound. Last scene of all,

That ends this strange eventful History,

Is second childishness, and meer oblivion,

Sans teeth, sans eyes, sans taste, sans every thing.


Eben den Unterscheid, den ich Ihnen in der Diction der Stufen-Alter gezeigt habe, finden Sie auch in der Sprache der verschiedenen Stände so sein geschattet, daß Sie augenblicklich das Ideal eines Landmanns von dem Ideal eines Bauernknechts, dieses vom Kuhhirten, den Kuhhirten vom Schäfer, alle vier vom Handwerksmann oder Bürger, den Bürger vom Edelmann, den Edelmann vom Hofmann, den Hofmann vom Prälaten, den Prälaten von andern Geistlichen, den Gelehrten vom Ungelehrten, aller unzähligen mehr ausgemalten Charakter itzt nicht zu gedenken, augenblicklich in den kleinsten Zügen ihrer Art sich auszudrücken, erkennen können. Bey einer so sorgfältigen Beobachtung der Natur, bey einer so seltnen Richtigkeit in der peinture des details, war es freylich nothwendig, die Fehler und Auswüchse mit der Correction des Ausdrucks in gleichem Paare gehen zu lassen; und wer, ohne Rücksicht auf diese Bedingung, Schakespearn den Vorwurf einer übeln Wahl macht, zeigt ausdrücklich, daß er selbst nicht aufgeklärt genug sey, die verschiednen Gattungen der Nachahmung richtig aus einander zu setzen.[135]

»Gattungen der Nachahmung! – Wahl des Ausdrucks! höre ich Sie mir zurufen. Habe ich Sie endlich ertappt? Allerdings vermißt man die Wahl des Ausdrucks: denn was in einem solchen Grade die Natur selbst ist, wie kann das schöne Natur seyn?« –

Sie sehen wenigstens, daß ich gerecht bin, und keinen Zweifel vorbeylasse, der mit einigem Anscheine gemacht werden kann. Daß Schakespear Begriffe von der schönen Natur gehabt habe, ist unstreitig. Er selbst sagt von der Kunst:


She tutors Nature; artificial strife

Lives in those touches, livelier than life;


und wieder anderswo:


– – – I have heard say,

There is an art, which in their piedness shares

With great creating Nature –


aber eben so unstreitig, ist es, daß er in seinen Begriffen einer Nachahmung der schönen Natur – ich will nicht sagen, von dem Geschmack der alten Griechen und einiger Römer (denn diese haben hierinn fast einerley Grundsätze mit ihm gehabt) – von unserm heutigen französirten Geschmacke unendlich abweicht. Machen Sie, wenns Ihnen beliebt, ihm daraus ein Verbrechen; und verstatten Sie mir dagegen, weit mehr Vergnügen an jener zwangfreyen Natur zu finden, als an einer sogenannten schönen Natur, die aus Furcht, ausschweifend oder arm zu scheinen, in goldenen Fesseln daher schreitet. Say there be, antwortete Polixenes,


Yet Nature is made better by no man,

– – – – Over that art

Which, you say, adds to Nature, is an art,

That Nature makes –


und dieß ihr großes Kunststück ist das Werk des Genies, das mich immer intereßiren wird.

1

Vielleicht. – So eine große Pflicht die Beobachtung des Ueblichen seyn mag, so frägt sichs doch, ob der Theater-Scribent nicht wider seinen eignen Vortheil handle, wenn er durch eine übertriebne Genauigkeit in der Zeichnung des Ausheimischen oder Antiken seinen Zeitverwandten unverständlich, oder gar abgeschmackt wird. Wenigstens hat sie dem Jonson bey diesen einen schlechten Dank erworben.

Die Sammler.

2

Obgleich diese kleine Neben-Betrachtung sehr richtig seyn kann, so glauben wir doch, daß das Publicum uns es kaum verzeihen würde, wenn wir sie beym Druck des L. Briefes nicht übersähen. Die Furcht vor Nachahmern darf wol einem Kunstrichter kein Bewegungsgrund seyn, gute Discußionen hintan zu setzen, wenn sie auch wirklich unverständigen Lesern nachtheilig werden sollten. Nachahmer werden immer seyn; sie können aber kein Uebel anrichten; und wenn dieß auch wäre, so ersetzt doch ein einziges Genie den Schaden von ihrer hunderten.

Die Sammler.

Quelle:
Heinrich Wilhelm Gerstenberg: Briefe über die Merkwürdigkeiten der Litteratur, Stuttgart 1890, S. 125-136.
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