Dritter Auftritt

[16] Die Vorigen außer den Damen.


GRAF. Nun, Ritter und ihr andern, tretet herbei! Ich hab euch vergeben; ich seh euch beschämt, und meine Großmut überläßt eurem eigenen Herzen Strafe und Besserung.

RITTER. Wir erkennen deine Huld, väterlicher Meister.

GRAF. Wenn ihr aber in der Folge meine Verordnungen überschreitet, wenn ihr nicht alles anwendet, den begangenen Fehler wiedergutzumachen, so hoffet nie, das Angesicht des Großkophta zu sehen, nie, an der Quelle der Weisheit eure durstigen Lippen zu erquicken. – Nun, laßt hören, habt ihr gefaßt, was ich euch überlieferte? – Wann soll ein Schüler seine Betrachtungen anstellen?

RITTER. Bei Nachtzeit.

GRAF. Warum?

ERSTER SCHÜLER. Damit er desto lebhafter fühle, daß er im Finstern wandelt.

GRAF. Welche Nächte soll er vorziehen?

ZWEITER SCHÜLER. Nächte, wenn der Himmel klar ist und die Sterne funkeln.

GRAF. Warum?

RITTER. Damit er einsehe, daß viele tausend Lichter noch nicht hell machen, und damit seine Begierde nach der einzig erleuchtenden Sonne desto lebhafter werde.

GRAF. Welchen Stern soll er vorzüglich im Auge haben?

ERSTER SCHÜLER. Den Polarstern.

GRAF. Was soll er sich dabei vorstellen?

ZWEITER SCHÜLER. Die Liebe des Nächsten.

GRAF. Wie heißt der andere Pol?

ERSTER SCHÜLER. Die Liebe der Weisheit.

GRAF. Haben diese beiden Pole eine Achse?

RITTER. Freilich, denn sonst könnten sie keine Pole sein. Diese Achse geht durch unser Herz, wenn wir rechte Schüler der Weisheit sind, und das Universum dreht sich um uns herum.[16]

GRAF. Sage mir den Wahlspruch des ersten Grades.

RITTER. Was du willst, daß dir die Leute tun sollen, wirst du ihnen auch tun.

GRAF. Erkläre mir diesen Spruch.

RITTER. Er ist deutlich, er bedarf keiner Erklärung.

GRAF. Wohl! – Nun geht in den Garten, und faßt den Polarstern recht in die Augen.

RITTER. Es ist sehr trübe, großer Lehrer; kaum daß hie und da ein Sternchen durchblinkt.

GRAF. Desto besser! – So bejammert euren Ungehorsam, euren Leichtsinn, eure Leichtfertigkeit; das sind Wolken, welche die himmlischen Lichter verdunkeln.

RITTER. Es ist kalt, es geht ein unfreundlicher Wind, wir sind leicht gekleidet.

GRAF. Hinunter! hinunter mit euch! Darf ein Schüler der Weisheit frieren? – Mit Lust solltet ihr eure Kleider abwerfen, und die heiße Begierde eures Herzens, der Durst nach geheimer Wissenschaft sollte Schnee und Eis zum Schmelzen bringen. Fort mit euch! fort!


Der Ritter und die andern mit einer Verbeugung ab.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 16-17.
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