Vierter Auftritt

[17] Der Graf. Der Domherr.


GRAF. Nun hervor mit Ihnen, Domherr! hervor! Sie erwartet ein strenger Gericht. – Ihnen hätte ich es nicht zugetraut. Der Schüler, dem ich mehr als allen andern die Hand reiche, den ich mit Gewalt zu mir heraufziehe, dem ich schon die Geheimnisse des zweiten Grades enthüllt habe – dieser besteht so schlecht bei einer geringen Prüfung! – Nicht die Drohungen seines Meisters, nicht die Hoffnung, den Großkophta zu sehen, können ihn abhalten, seine Gelage nur wenige Nächte zu verschieben. Pfui! ist das männlich? ist das weise? Die Lehren des größten Sterblichen! die Hülfe der Geister! die Eröffnung[17] aller Geheimnisse der Natur, eine ewige Jugend, eine immer gleiche Gesundheit, eine unverwüstliche Stärke, eine nie verschwindende Schönheit! Um diese größten Schätze der Welt bemühest du dich und kannst nicht einem Abendschmause entsagen!

DOMHERR niederkniend. Du hast mich oft zu deinen Füßen gesehen; hier lieg ich wieder. Vergib mir! entziehe mir nicht deine Huld. – Die Reize – die Lockung – die Gelegenheit – die Verführung! – Nie sollst du mich wieder ungehorsam finden! gebiete! lege mir auf, was du willst!

GRAF. Wie kann ich mit dir zürnen, du mein Liebling! wie kann ich dich verstoßen, du Erwählter des Schicksals! Steh auf, komm an meine Brust, von der du dich, selbst mit Gewalt, nicht losreißen kannst.

DOMHERR. Wie entzückst du mich! – Aber darf ich in diesem Augenblicke, wo ich büßen und trauren sollte, darf ich als ein Zeichen der Versöhnung mir eine Gnade von dir ausbitten?

GRAF. Sprich, mein Teurer!

DOMHERR. Laß mich nicht länger in Ungewißheit, gib mir ein helleres Licht über den wunderbaren Mann, den du Großkophta nennst, den du uns zeigen willst, von dem du uns so viel versprichst. Sage mir: wer ist er? Wo ist er? Ist er schon nah? Werd ich ihn sehen? Kann er mich würdigen? Kann er mich aufnehmen? Wird er mir die Lehren überliefern, nach denen mein Herz so heftig begehrt?

GRAF. Mäßig! mäßig, mein Sohn! Wenn ich dir nicht gleich alles entdecke, so ist dein Bestes meine Absicht. – Deine Neugierde zu wecken, deinen Verstand zu üben, deine Gelehrsamkeit zu beleben, das ist es, was ich wünsche! so möchte ich mich um dich verdient machen. – Hören und lernen kann jedes Kind; merken und raten müssen meine Schüler. – Als ich sagte: Kophta, fiel dir nichts ein?

DOMHERR. Kophta! Kophta! – Wenn ich dir es gestehen soll, wenn ich mich vor dir nicht zu schämen brauche![18] Meine Einbildungskraft verließ sogleich diesen kalten, beschränkten Weltteil; sie besuchte jenen heißen Himmelsstrich, wo die Sonne noch immer über unsäglichen Geheimnissen brütet. Ägypten sah ich auf einmal vor mir stehen; eine heilige Dämmerung umgab mich; zwischen Pyramiden, Obelisken, ungeheuren Sphinxen, Hieroglyphen verirrte ich mich; ein Schauer überfiel mich. – Da sah ich den Großkophta wandeln; ich sah ihn umgeben von Schülern, die wie mit Ketten an seinen klugen Mund gebunden waren.

GRAF. Diesmal hat dich deine Einbildungskraft nicht irregeführt. Ja, dieser große herrliche, und ich darf wohl sagen, dieser unsterbliche Greis ist es, von dem ich euch sagte, den ihr zu sehen dereinst hoffen dürfet. In ewiger Jugend wandelt er schon Jahrhunderte auf diesem Erdboden. Indien, Ägypten ist sein liebster Aufenthalt. Nackt betritt er die Wüsten Libyens; sorglos erforscht er dort die Geheimnisse der Natur. Vor seinem gebieterisch hingestreckten Arm stutzt der hungrige Löwe; der grimmige Tiger entflieht vor seinem Schelten, daß die Hand des Weisen ruhig heilsame Wurzeln aufsuche, Steine zu unterscheiden wisse, die wegen ihrer geheimen Kräfte schätzbarer sind als Gold und Diamanten.

DOMHERR. Und diesen trefflichen Mann sollen wir sehen? Gib mir einen Wink, auf welche Weise es möglich sei?

GRAF. O du Kurzsichtiger! welche Winke soll ich dir geben? Dir, dessen Augen geschlossen sind!

DOMHERR. Nur ein Wort!

GRAF. Es ist genug! – Was der Hörer wissen soll, pflege ich ihm nie zu sagen.

DOMHERR. Ich brenne vor Begierde, besonders seitdem du mich in den zweiten Grad der Geheimnisse erhoben hast. Oh! daß es möglich wäre, daß du mir auch sogleich den dritten schenktest!

GRAF. Es kann nicht geschehen!

DOMHERR. Warum?[19]

GRAF. Weil ich noch nicht weiß, wie du die Lehren des zweiten Grades gefaßt haben magst und ausüben wirst.

DOMHERR. Prüfe mich sogleich.

GRAF. Es ist jetzt nicht Zeit.

DOMHERR. Nicht Zeit?

GRAF. Hast du schon vergessen, daß die Schüler des zweiten Grades ihre Betrachtungen bei Tage und besonders morgens anstellen sollen?

DOMHERR. So sei es denn morgen bei guter Zeit.

GRAF. Gut! Nun aber zuvörderst die Buße nicht versäumt! – Hinunter zu den andern in den Garten! – – Aber du sollst einen großen Vorzug vor ihnen haben. – – Wende ihnen den Rücken zu – schaue gegen Mittag. Von Mittag kommt der Großkophta; dieses Geheimnis entdeck ich dir allein. Alle Wünsche deines Herzens eröffne ihm; sprich, so leise du willst, er hört dich.

DOMHERR. Ich gehorche mit Freuden. Er küßt dem Grafen die Hand und entfernt sich.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Berlin 1960 ff, S. 17-20.
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