Zwölfter Auftritt

[53] ALCEST.

Solch einen schweren Streit empfand dies Herz noch nie.

Das seltene Geschöpf, in dem die Phantasie

Des zärtlichen Alcests das Bild der Tugend ehrte;

Die ihn den höchsten Grad der süßten Liebe lehrte;

Ihm Gottheit, Mädchen, Freund, in allem alles war,

Jetzt so herabgesetzt! Es überläuft mich! Zwar

Verlacht Erfahrung jetzt die Hoheit der Ideen

Und läßt sie als ein Weib bei andern Weibern stehen.

Allein so tief, so tief. Das treibt zur Raserei!

Mein widerspenstig Herz steht ihr noch immer bei.

Wie klein! Kannst du denn das nicht über dich vermögen?

Ergreif nur seine Hand! Es kömmt dir ja entgegen,

Das Glück. Die schöne Frau, die du begierig liebst,

Braucht Geld! Geschwind, Alcest, der Pfennig, den du gibst,

Trägt seinen Taler. Nun hat sie sich's selbst genommen;

Schon gut; da mag sie noch einmal mit Tugend kommen.

Geh wie ein Débauché, und sag mit kaltem Blut:

Madam, Sie haben doch das Geld genommen? Gut.[53]

Es ist mir herzlich lieb, nur ohne Furcht bedienen

Sie sich des wenigen; was mein ist, ist auch Ihnen.

Dann den vertrauten Ton, von halbem Mann und Frau!

Und selbst die Tugend nimmt nicht alles so genau,

Wenn man hübsch sachte geht. Weit eher wird sie weichen.

Sie kommt! Du bist bestürzt; das ist ein schlimmes Zeichen.

Alcest, du schickst dich nicht zur Bosheit, zum Betrug,

Dein Herz ist übrig bös, allein nicht stark genug.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 5, Berlin 1960 ff, S. 53-54.
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