Achter Auftritt

[296] EUGENIE allein.

Vom eignen Elend leitet man mich ab,

Und fremden Jammer prophezeit man mir.

Doch wär' es fremd, was deinem Vaterland

Begegnen soll? Dies fällt mit neuer Schwere

Mir auf die Brust! Zum gegenwärt'gen Übel

Soll ich der Zukunft Geistesbürden tragen?

So ist's denn wahr, was in der Kindheit schon

Mir um das Ohr geklungen, was ich erst

Erhorcht, erfragt und nun zuletzt sogar

Aus meines Vaters, meines Königs Mund

Vernehmen mußte! Diesem Reiche droht

Ein jäher Umsturz. Die zum großen Leben

Gefugten Elemente wollen sich

Nicht wechselseitig mehr mit Liebeskraft

Zu stets erneuter Einigkeit umfangen.

Sie fliehen sich, und einzeln tritt nun jedes

Kalt in sich selbst zurück. Wo blieb der Ahnherrn

Gewalt'ger Geist, der sie zu einem Zweck

Vereinigte, die feindlich kämpfenden?

Der diesem großen Volk als Führer sich,

Als König und als Vater dargestellt?

Er ist entschwunden! Was uns übrig bleibt,

Ist ein Gespenst, das mit vergebnem Streben

Verlorenen Besitz zu greifen wähnt.

Und solche Sorge nähm' ich mit hinüber?

Entzöge mich gemeinsamer Gefahr?

Entflöhe der Gelegenheit, mich kühn

Der hohen Ahnen würdig zu beweisen

Und jeden, der mich ungerecht verletzt,

In böser Stunde hilfreich zu beschämen?

Nun bist du, Boden meines Vaterlands,

Mir erst ein Heiligtum, nun fühl' ich erst

Den dringenden Beruf, mich anzuklammern.

Ich lasse dich nicht los, und welches Band

Mich dir erhalten kann, es ist nun heilig.

Wo find' ich jenen gutgesinnten Mann,

Der mir die Hand so traulich angeboten?[296]

An ihn will ich mich schließen! Im Verborgnen

Verwahr' er mich, als reinen Talisman.

Denn wenn ein Wunder auf der Welt geschieht,

Geschieht's durch liebevolle, treue Herzen.

Die Größe der Gefahr betracht' ich nicht,

Und meine Schwäche darf ich nicht bedenken:

Das alles wird ein günstiges Geschick

Zu rechter Zeit auf hohe Zwecke leiten.

Und wenn mein Vater, mein Monarch mich einst

Verkannt, verstoßen, mich vergessen, soll

Erstaunt ihr Blick auf der Erhaltnen ruhn,

Die das, was sie im Glücke zugesagt,

Aus tiefem Elend zu erfüllen strebt.

Er kommt! Ich seh' ihm freudiger entgegen,

Als ich ihn ließ. Er kommt. Er sucht mich auf!

Zu scheiden denkt er – bleiben werd' ich ihm.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 5, Hamburg 1948 ff, S. 296-297.
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