Dom.


[120] Amt, Orgel und Gesang. Gretchen unter vielem Volke. Böser Geist hinter Gretchen.


BÖSER GEIST.

Wie anders, Gretchen, war dir's,

Als du noch voll Unschuld

Hier zum Altar tratst,

Aus dem vergriffnen Büchelchen

Gebete lalltest,

Halb Kinderspiele,

Halb Gott im Herzen!

Gretchen!

Wo steht dein Kopf?

In deinem Herzen

Welche Missetat?

Betst du für deiner Mutter Seele, die

Durch dich zur langen, langen Pein hinüberschlief?

Auf deiner Schwelle wessen Blut?

– Und unter deinem Herzen

Regt sich's nicht quillend schon

Und ängstet dich und sich

Mit ahnungsvoller Gegenwart?

GRETCHEN.

Weh! Weh!

Wär' ich der Gedanken los,

Die mir herüber und hinüber gehen

Wider mich!

CHOR.

Dies irae, dies illa

Solvet saeclum in favilla.


Orgelton.


BÖSER GEIST.

Grimm faßt dich!

Die Posaune tönt!

Die Gräber beben!

Und dein Herz,

Aus Aschenruh

Zu Flammenqualen

Wieder aufgeschaffen,

Bebt auf!

GRETCHEN.

Wär' ich hier weg!

Mir ist, als ob die Orgel mir[120]

Den Atem versetzte,

Gesang mein Herz

Im Tiefsten löste.

CHOR.

Judex ergo cum sedebit,

Quidquid latet adparebit,

Nil inultum remanebit.

GRETCHEN.

Mir wird so eng!

Die Mauernpfeiler

Befangen mich!

Das Gewölbe

Drängt mich! – Luft!

BÖSER GEIST.

Verbirg dich! Sünd' und Schande

Bleibt nicht verborgen.

Luft? Licht?

Weh dir!

CHOR.

Quid sum miser tunc dicturus?

Quem patronum rogaturus?

Cum vix justus sit securus.

BÖSER GEIST.

Ihr Antlitz wenden

Verklärte von dir ab.

Die Hände dir zu reichen,

Schauert's den Reinen.

Weh!

CHOR.

Quid sum miser tunc dicturus?

GRETCHEN.

Nachbarin! Euer Fläschchen! –


Sie fällt in Ohnmacht.


Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 3, Hamburg 1948 ff, S. 120-121.
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