Die Spinnerin

[127] Als ich still und ruhig spann,

Ohne nur zu stocken,

Trat ein schöner junger Mann

Nahe mir zum Rocken.
[127]

Lobte, was zu loben war,

Sollte das was schaden?

Mein dem Flachse gleiches Haar

Und den gleichen Faden.


Ruhig war er nicht dabei,

Ließ es nicht beim alten;

Und der Faden riß entzwei,

Den ich lang' erhalten.


Und des Flachses Steingewicht

Gab noch viele Zahlen;

Aber ach, ich konnte nicht

Mehr mit ihnen prahlen.


Als ich sie zum Weber trug,

Fühlt ich was sich regen,

Und mein armes Herze schlug

Mit geschwindern Schlagen.


Nun, beim heißen Sonnenstich,

Bring ich's auf die Bleiche,

Und mit Mühe bück ich mich

Nach dem nächsten Teiche.


Was ich in dem Kämmerlein

Still und fein gesponnen,

Kommt – wie kann es anders sein? –

Endlich an die Sonnen.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 127-128.
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