Rettung

[20] Mein Mädchen ward mir ungetreu,

Das machte mich zum Freudenhasser;

Da lief ich an ein fließend Wasser,

Das Wasser lief vor mir vorbei.


Da stand ich nun, verzweiflend, stumm;

Im Kopfe war mir's wie betrunken,

Fast wär ich in den Strom gesunken,

Es ging die Welt mit mir herum.


Auf einmal hört ich was, das rief

Ich wandte just dahin den Rücken –,

Es war ein Stimmchen zum Entzücken:

»Nimm dich in acht! Der Fluß ist tief.«


Da lief mir was durchs ganze Blut,

Ich seh, so ist's ein liebes Mädchen;

Ich fragte sie: »Wie heißt du?« – »Käthchen!«

»O schönes Käthchen! Du bist gut.


Du hältst vom Tode mich zurück,

Auf immer dank ich dir mein Leben;

Allein das heißt mir wenig geben,

Nun sei auch meines Lebens Glück!«
[20]

Und dann klagt ich ihr meine Not,

Sie schlug die Augen lieblich nieder;

Ich küßte sie und sie mich wieder,

Und – vorderhand nichts mehr von Tod.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 20-21.
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