An Schwager Kronos

[319] Spute dich, Kronos!

Fort den rasselnden Trott!

Bergab gleitet der Weg;

Ekles Schwindeln zögert

Mir vor die Stirne dein Zaudern.

Frisch, holpert es gleich,

Über Stock und Steine den Trott

Rasch ins Leben hinein!


Nun schon wieder

Den eratmenden Schritt

Mühsam Berg hinauf!

Auf denn, nicht träge denn,

Strebend und hoffend hinan!


Weit, hoch, herrlich der Blick

Rings ins Leben hinein;

Vom Gebirg zum Gebirg

Schwebet der ewige Geist,

Ewigen Lebens ahndevoll.


Seitwärts des Überdachs Schatten

Zieht dich an

Und ein Frischung verheißender Blick

Auf der Schwelle des Mädchens da.

Labe dich! – Mir auch, Mädchen,

Diesen schäumenden Trank,

Diesen frischen Gesundheitsblick!


Ab denn, rascher hinab!

Sieh, die Sonne sinkt!

Eh sie sinkt, eh mich Greisen

Ergreift im Moore Nebelduft,

Entzahnte Kiefer schnattern

Und das schlotternde Gebein –
[319]

Trunknen vom letzten Strahl

Reiß mich, ein Feuermeer

Mir im schäumenden Aug,

Mich geblendeten Taumelnden

In der Hölle nächtliches Tor.


Töne, Schwager, ins Horn,

Raßle den schallenden Trab,

Daß der Orkus vernehme: wir kommen,

Daß gleich an der Türe

Der Wirt uns freundlich empfange.


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 319-320.
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