Harzreise im Winter

[316] Dem Geier gleich,

Der auf schweren Morgenwolken

Mit sanftem Fittich ruhend

Nach Beute schaut,

Schwebe mein Lied.


Denn ein Gott hat

Jedem seine Bahn

Vorgezeichnet,

Die der Glückliche

Rasch zum freudigen

Ziele rennt;

Wem aber Unglück

Das Herz zusammenzog,

Er sträubt vergebens

Sich gegen die Schranken

Des ehernen Fadens,

Den die doch bittre Schere

Nur einmal löst.


In Dickichtsschauer

Drängt sich das rauhe Wild,

Und mit den Sperlingen

Haben längst die Reichen

In ihre Sümpfe sich gesenkt.
[316]

Leicht ist's, folgen dem Wagen,

Den Fortuna führt,

Wie der gemächliche Troß

Auf gebesserten Wegen

Hinter des Fürsten Einzug.


Aber abseits wer ist's?

Ins Gebüsch verliert sich sein Pfad,

Hinter ihm schlagen

Die Sträuche zusammen,

Das Gras steht wieder auf,

Die Öde verschlingt ihn.


Ach, wer heilet die Schmerzen

Des, dem Balsam zu Gift ward?

Der sich Menschenhaß

Aus der Fülle der Liebe trank?

Erst verachtet, nun ein Verächter,

Zehrt er heimlich auf

Seinen eignen Wert

In ungnügender Selbstsucht.


Ist auf deinem Psalter,

Vater der Liebe, ein Ton

Seinem Ohre vernehmlich,

So erquicke sein Herz!

Öffne den umwölkten Blick

Über die tausend Quellen

Neben dem Durstenden

In der Wüste!


Der du der Freuden viel schaffst,

Jedem ein überfließend Maß,

Segne die Brüder der Jagd

Auf der Fährte des Wilds

Mit jugendlichem Übermut[317]

Fröhlicher Mordsucht,

Späte Rächer des Unbills,

Dem schon Jahre vergeblich

Wehrt mit Knütteln der Bauer.


Aber den Einsamen hüll

In deine Goldwolken!

Umgib mit Wintergrün,

Bis die Rose wieder heranreift,

Die feuchten Haare,

O Liebe, deines Dichters!


Mit der dämmernden Fackel

Leuchtest du ihm

Durch die Furten bei Nacht,

Über grundlose Wege

Auf öden Gefilden;

Mit dem tausendfarbigen Morgen

Lachst du ins Herz ihm;

Mit dem beizenden Sturm

Trägst du ihn hoch empor;

Winterströme stürzen vom Felsen

In seine Psalmen,

Und Altar des lieblichsten Danks

Wird ihm des gefürchteten Gipfels

Schneebehangner Scheitel,

Den mit Geisterreihen

Kränzten ahnende Völker.


Du stehst mit unerforschtem Busen

Geheimnisvoll offenbar

Über der erstaunten Welt

Und schaust aus Wolken

Auf ihre Reiche und Herrlichkeit,

Die du aus den Adern deiner Brüder

Neben dir wässerst.
[318]

Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 316-319.
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