Meine Göttin

[313] Welcher Unsterblichen

Soll der höchste Preis sein'?

Mit niemand streit ich,

Aber ich geb ihn

Der ewig beweglichen,

Immer neuen,

Seltsamen Tochter Jovis,

Seinem Schoßkinde,

Der Phantasie.
[313]

Denn ihr hat er

Alle Launen,

Die er sonst nur allein

Sich vorbehält,

Zugestanden

Und hat seine Freude

An der Törin.


Sie mag rosenbekränzt

Mit dem Lilienstengel

Blumentäler betreten,

Sommervögeln gebieten

Und leichtnährenden Tau

Mit Bienenlippen

Von Blüten saugen,


Oder sie mag

Mit fliegendem Haar

Mit düsterm Blicke

Im Winde sausen

Um Felsenwände

Und tausendfarbig,

Wie Morgen und Abend,

Immer wechselnd,

Wie Mondesblicke,

Den Sterblichen scheinen.


Laßt uns alle

Den Vater preisen!

Den alten, hohen,

Der solch eine schöne

Unverwelkliche Gattin

Dem sterblichen Menschen

Gesellen mögen!
[314]

Denn uns allein

Hat er sie verbunden

Mit Himmelsband

Und ihr geboten,

In Freud und Elend

Als treue Gattin

Nicht zu entweichen.


Alle die andern

Armen Geschlechter

Der kinderreichen

Lebendigen Erde

Wandeln und weiden

In dunkelm Genuß

Und trüben Schmerzen

Des augenblicklichen,

Beschränkten Lebens,

Gebeugt vom Joche

Der Notdurft.


Uns aber hat er

Seine gewandteste,

Verzärtelte Tochter,

Freut euch! gegönnt.

Begegnet ihr lieblich,

Wie einer Geliebten!

Laßt ihr die Würde

Der Frauen im Haus!


Und daß die alte

Schwiegermutter Weisheit

Das zarte Seelchen

Ja nicht beleid'ge!


Doch kenn ich ihre Schwester,

Die ältere, gesetztere,

Meine stille Freundin:
[315]

O daß die erst

Mit dem Lichte des Lebens

Sich von mir wende,

Die edle Treiberin,

Trösterin Hoffnung!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 313-316.
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