Sommer

[257] 19

Grausam erweiset sich Amor an mir! O spielet, ihr Musen,

Mit den Schmerzen, die er, spielend, im Busen erregt!


20

Manuskripte besitz ich wie kein Gelehrter noch König;

Denn mein Liebchen, sie schreibt, was ich ihr dichtete, mir.
[257]

21

Wie im Winter die Saat nur langsam keimet, im Sommer

Lebhaft treibet und reift, so war die Neigung zu dir.


22

Immer war mir das Feld und der Wald und der Fels und die Gärten

Nur ein Raum, und du machst sie, Geliebte, zum Ort.


23

Raum und Zeit, ich empfind es, sind bloß Formen des Anschauns,

Da das Eckchen mit dir, Liebchen, unendlich mir scheint.


24

Sorge! sie steiget mit dir zu Roß, sie steiget zu Schiffe;

Viel zudringlicher noch packet sich Amor uns auf.


25

Neigung besiegen ist schwer; gesellet sich aber Gewohnheit,

Wurzelnd, allmählich zu ihr, unüberwindlich ist sie.


26

Welche Schrift ich zwei-, ja dreimal hintereinander

Lese? Das herzliche Blatt, das die Geliebte mir schreibt.


27

Sie entzückt mich, und täuschet vielleicht. O Dichter und Sänger,

Mimen! lernet ihr doch meiner Geliebten was ab!
[258]

28

Alle Freude des Dichters, ein gutes Gedicht zu erschaffen,

Fühle das liebliche Kind, das ihn begeisterte, mit.


29

Ein Epigramm sei zu kurz, mir etwas Herzlichs zu sagen?

Wie, mein Geliebter, ist nicht kürzer der herzliche Kuß?


30

Kennst du das herrliche Gift der unbefriedigten Liebe?

Es versengt und erquickt, zehret am Mark und erneut's.


31

Kennst du die herrliche Wirkung der endlich befriedigten Liebe?

Körper verbindet sie schön, wenn sie die Geister befreit.


32

Das ist die wahre Liebe, die immer und immer sich gleich bleibt,

Wenn man ihr alles gewährt, wenn man ihr alles versagt.


33

Alles wünscht ich zu haben, um mit ihr alles zu teilen;

Alles gäb ich dahin, wär sie, die Einzige, mein!


34

Kränken ein liebendes Herz und schweigen müssen; geschärfter

Können die Qualen nicht sein, die Rhadamanth sich ersinnt.
[259]

35

»Warum bin ich vergänglich, o Zeus?« so fragte die Schönheit.

»Macht ich doch«, sagte der Gott, »nur das Vergängliche schön.«


36

Und die Liebe, die Blumen, der Tau und die Jugend vernahmen's;

Alle gingen sie weg, weinend, von Jupiters Thron.


37

Leben muß man und lieben; es endet Leben und Liebe.

Schnittest du, Parze, doch nur beiden die Fäden zugleich!


Quelle:
Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Band 1, Berlin 1960 ff, S. 257-260.
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