1783

[70] 49.*


1783, 5.-7. Februar.


Mit Johann Georg Paul Götze

Ich [Eckermann] fragte ihn [Philipp Seidel], ob Goethe in jener ersten Zeit seines Hierseins auch sehr lustig gewesen. Allerdings, antwortete er, sei er mit den Fröhlichen fröhlich gewesen, jedoch nie über die Grenze; in solchen Fällen sei er gewöhnlich ernst geworden. Immer gearbeitet und geforscht und seinen Sinn auf Kunst und Wissenschaft gerichtet, das sei im Allgemeinen seines Herrn fortwährende Richtung gewesen. Abends habe ihn der Herzog häufig besucht, und da hätten Sie oft bis tief in die Nacht hinein über gelehrte Gegenstände gesprochen daß ihm oft die Zeit und Weile lang geworden und er oft gedacht habe, ob denn der Herzog noch nicht gehen wolle. »Und die Naturforschung,« fügte er hinzu, »war schon damals seine Sache.«

»Einst klingelte er mitten in der Nacht, und als ich zu ihm in die Kammer trete, hat er sein eisernes Rollbette vom untersten Ende der Kammer herauf bis ans Fenster gerollt und beobachtet den Himmel. ›Hast Du nichts am Himmel gesehen?‹ fragte er mich, und als ich dies verneinte: ›so laufe einmal nach der Wache und frage den Posten, ob der nichts gesehen.‹ Ich lief hin; der Posten hatte aber nichts gesehen,[70] welches ich meinem Herrn meldete, der noch ebenso lag und den Himmel unverwandt beobachtete. ›Höre!‹ sagte er dann zu mir, ›wir sind in einem bedeutenden Moment: entweder wir haben in diesem Augenblick ein Erdbeben, oder wir bekommen eins.‹ Und nun mußte ich mich zu ihm auf's Bette setzen und er demonstrirte mir, aus welchen Merkmalen er das abnehme.«

Ich fragte den guten Alten, was es für Wetter gewesen. »Es war sehr wolkig,« sagte er, »und dabei regte sich kein Lüftchen; es war sehr still und schwül.« – Ich fragte ihn, ob er Goethen jenen Ausspruch sogleich auf's Wort geglaubt habe. »Ja,« sagte er, »ich glaube ihm auf's Wort; denn was er vorhersagte, war immer richtig. Am nächsten Tage« – fuhr er fort – »erzählte mein Herr seine Beobachtungen bei Hofe, wobei eine Dame ihrer Nachbarin in's Ohr flüsterte: ›Höre! Goethe schwärmt.‹ Der Herzog aber und die übrigen Männer glaubten an Goethe, und es wies sich auch bald aus, daß er recht gesehen; denn nach einigen Wochen kam die Nachricht, daß in derselbigen Nacht ein Theil von Messina durch ein Erdbeben zerstört worden.«[71]


50.*


1783, 9. Februar.


Mit Johann Gottfried Herder

Bei der Predigt am Geburtsfest [des Erbprinzen Karl Friedrich]1 hat sich unmittelbar nach dem Amen folgender Dialogus in der Kirche, in dem sogenannten Rathsstande zugetragen:

Goethe: Was denkst Du zu der Predigt?

Wieland: (wie er wenigstens sagt:) Nun, es war eine wackre Predigt.

Goethe: Er hat doch aber so eine harte Manier, die Sachen zu sagen. Nach solcher Predigt bleibt einem Fürsten nichts übrig als abzudanken.

(Ergreift seinen Hut und geht still aus der Kirche.)

Zweiter Dialogus bei der Herzogin Mutter.

Sie: Was denken Sie von der heutigen Predigt?

(Wieland ohngefähr wie oben.)

Sie: Mich dünkt aber, daß Sie doch vor diesen Tag unerwartet war: beim Regierungsantritt oder solchen Tagen könnte sie wohl gehalten werden.

Wieland: Je nun! weil der Herzog sonst nicht in die Kirche kommt, so hat Herder vermuthlich den Augenblick ergriffen, da er ihn hatte.

Sie: Er sollte freilich mehr in die Kirche gehen etc.

[72] Dritter Dialogus. Abends im großen Saal bei Hofe.

Herzog: Sind Sie heut in der Kirche gewesen?

Wieland: Ja, Euer Durchlaucht.

Herzog: Wie hat Ihnen die Predigt gefallen?

Wieland: (wie oben.)

Herzog: Ich weiß doch aber nicht, was die Leute bei einem Kind für erstaunende Hoffnungen haben. Es ist doch nur ein Kind.

Wieland: Aus dem indessen Alles werden kann und da hofft jeder, daß das Beste aus ihm werde.

Herzog: Übrigens war die Predigt ganz ohne Piques (das ist ein Lieblingswort hier).

Wieland: O ganz ohne Piques: sie war, dünkt mich, so rein wie sie von der Kanzel kommen mußte.

Herzog: Es war eine brave Predigt.

Dies ist, was der Hofpoet in einer Ergießung seiner guten Laune und neuen Freundschaftswärme erzählte, dazu ihn vor wenigen Wochen ein Genius in der Nacht ermahnt hat. Ich muß Ihnen doch auch diesen Traum hersetzen:

»Mich dünkte, ich stand bei einem Concert am Hofe im Saal an der Wand und hörte. Herder so angekleidet, wie er bei Hofe erscheint (d.i. in Mantel und Kragen), tritt vor mich und sieht mich mit sehr ruhigem, guten Blick an. Mir war das fatal; denn ich hatte mir fest vorgenommen, gar nicht mehr an Sie beide zu denken« .....


1 Gedruckt in Herder's »Christlichen Reden und Homilien« III. Theil (»Zur Religion u. Theologie« X, Theil) 1828. S. 53 ff.[73]


51.*


1783, April.


Mit Friedrich Matthisson

Ich lernte Goethe zuerst an einem Tage persönlich kennen, wo seine Menschlichkeit sich ganz heilig und rein offenbarte. Er gab ein Kinderfest in einem Garten unweit Weimar. Es galt, Ostereier aufzuwittern. Die muntere Jugend, worunter auch kleine Herder und Wielande waren, zerschlug sich durch den Garten und balgte sich bei dem Entdecken der schlau versteckten Schätze mitunter nicht wenig.

Ich erblicke Goethe noch vor mir. Der stattliche Mann im goldverbrämten blauen Reitkleide erschien mitten in dieser muthwilligen Quecksilbergruppe als ein wohlgewogener oder ernster Vater, der Ehrfurcht und Liebe gebot. Er blieb mit den Kindern beisammen bis nach Sonnenuntergang und gab ihnen am Ende noch eine Naschpyramide preis, welche die Cocagnen zu Neapel gar nicht übel nachbildete. Ein Mann, der an der Kindheit und an der Musik Ergötzen findet, ist ein edler Mann, wie schon Shakespeare behauptet, welchen Satz mir auch die Erfahrung mehr als einmal in das Buch meiner heiligsten Wahrheiten einschrieb. Ich war eigentlich zudringlich, bloß um dem Verfasser von »Werthers Leiden« einen Blick abzugewinnen und mir sein Bild bleibend in die Seele zu prägen. Er[74] war sehr artig und äußerte beim Anblick der ihm wohlbekannten Uniform des damals noch blühenden Philanthropins zu Dessau: »Sie sind hier völlig in Ihrem Elemente; ich bitte Sie zu bleiben, so lange es Ihnen angenehm ist.«[75]


1590.*


1783, Ende April.


Mit Johann Friedrich Blumenbach

und Christoph Martin Wieland

Goethe, den ich oft und in verschiedenen Situationen bei Hof unter den Herrschaften, unter seinen Collegen, unter den Damen, vis à vis von Wieland und mehreremale recht lange mit mir tête à tête gesehen habe, da er mich in seinen Garten und spaziren führte u.s.w. hat alle meine Vorstellungen, die ich mir nach anderer Erzählung von ihm gemacht hatte, gar sehr übertroffen. Nichts den Geheimen Rath Ankündigendes, Zurückhaltendes, sondern ein gesetzter, aber ganz unaffectirter, äußerst zugänglicher Mann, unglaublich offen, hell und doch tief penetrirend in seinem Urtheile, und doch überaus billig, gar nicht decisiv, wie ich zumal in unserer Unterredung über Lavater und Physiognomik, über Verfassung der Jenaischen Universität u.s.w. gesehen habe. Überall viel gesunde, richtige und deutliche Philosophie und den reifen Geschmack, der auch in[14] seinem Zimmer und artigen Garten u.s.w. durchgehends herrscht. Wieland schien mir daher in seiner Gegenwart eine etwas abstechende, nicht sehr vortheilhafte Figur zu machen. Sie dutzen sich zwar und sind herzlich gute Freunde, aber man spürt doch Goethe's Superiorität. Dieser sagte mir z. E. in Wieland's Gegenwart, daß Villoison so für Wieland eingenommen sei, rühre daher, weil dieser sein lateinisches Gedicht auf die Geburt des Erbprinzen in gleichem Silbenmaß so künstlich deutsch übersetzt habe. Dafür habe ihn Villoison zwar Chrysostomus genannt, aber doch auch imgrunde mit König Midas verglichen, indem er gesagt, daß unter Wieland's Händen alles zu Gold werde.[15]


1591.*


1783, 9. oder 10. September.


Bei Marie Antonie von Branconi

Schon dachte Frau v. Branconi wieder an die Abreise [von Langenstein], als sich Goethe mit Fritz v. Stein bei ihr einstellte. Das Wetter war nicht günstig, so lange der große Dichter bei der schönen Frau verweilte; scherzweise meinte er: Frau v. Stein, mit deren Eifersucht er immerfort zu rechnen hatte, habe diese Stürme und Wolken gesandt.[15]


52.*


1783, September.


Mit Friedrich Wilhelm Heinrich von Trebra

Unser romantischer Weg führte uns vom Oderteichdamme in einer mehr auf Dienstleistungen beziehenden Richtung auf den Rehbergersgraben herunter nach Andreasberg, und so nah an der Rehbergerklippe vorbei. Diese hohe, nahe am Graben ganz senkrecht dastehende Felswand war mit einem großen Haufen herunter gestürzter Bruchstücke von Tisch- und Stuhl- und Ofen-Größen verschanzt, von welchen sogleich viele zerschlagen wurden. Unter ihnen von jenen Doppelgesteinarten Granit, mit ausgesetztem, eingewachsenem, dunkelblauem, fast schwarzem, sehr hartem (jaspisartigem) Tongestein. »Die können nirgends anders herkommen, als von jener Klippe da vor uns.« »Dahin müssen wir!« antwortete mein Freund [Goethe]. »Behutsam! Vorsichtig!« schrie ich ihm nach, »die moosbedeckten schlüpfrigen Felsstücke liegen gefahrvoll durcheinander; wir können die Beine dazwischen brechen.« – »Nur fort! Nur[75] fort!« antwortete er voraneilend; »wir müssen noch zu großen Ehren kommen, ehe wir die Hälse brechen.« Und wir kamen zusammen heran an den Fuß der Felswand, wo wir nun gar deutlich den Abschnitt des schwarzen Gesteins auf dem blaß fleischrothen Granit in gar langer Linie sich hinziehend erkennen konnten. Aber, unserer ziemlichen Größe ungeachtet, erreichen mit den Händen konnten wir sie doch nicht. »Wenn Du Dich fest hinstellen wolltest,« sagte mein Freund zu mir, »so wollte ich jene in den Felsen eingewachsene Strauchwurzel ergreifen, mich im Anhalten an sie hebend auf Deine Schultern schwingen, und dann würde ich den so kenntlichen Abschnittsstrich wenigstens mit der Hand erreichen können.« So geschah's, und wir hatten das seltene Vergnügen, den merkwürdigen Abschnittsstrich von hier eingewurzeltem Urgebirge, rothen Granit, und draufstehenden dunkel-, fast schwarzblauen Thongesteins nahe zu sehen, sogar mit Händen zu greifen.[76]


Quelle:
Goethes Gespräche. Herausgegeben von Woldemar Freiherr von Biedermann, Band 1–10, Leipzig 1889–1896, Band 1, S. 75-77.
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