XVIII. Wiederholung

[98] 112. Ich wünsche, daß gegenwärtiger Versuch, die Metamorphose der Pflanzen zu erklären, zu Auflösung dieser Zweifel[98] einiges beitragen, und zu weiteren Bemerkungen und Schlüssen Gelegenheit geben möge. Die Beobachtungen, worauf er sich gründet, sind schon einzeln gemacht, auch gesammlet und gereihet worden4; und es wird sich bald entscheiden, ob der Schritt, den wir gegenwärtig getan, sich der Wahrheit nähere. So kurz als möglich fassen wir die Hauptresultate des bisherigen Vortrags zusammen.


113. Betrachten wir eine Pflanze insofern sie ihre Lebenskraft äußert, so sehen wir dieses auf eine doppelte Art geschehen, zuerst durch das Wachstum, indem sie Stengel und Blätter hervorbringt, und sodann durch die Fortpflanzung, welche in dem Blüten- und Fruchtbau vollendet wird. Beschauen wir das Wachstum näher, so sehen wir, daß, indem die Pflanze sich von Knoten zu Knoten, von Blatt zu Blatt fortsetzt, indem sie sproßt, gleichfalls eine Fortpflanzung geschehe, die sich von der Fortpflanzung durch Blüte und Frucht, welche auf einmal geschiehet, darin unterscheidet, daß sie sukzessiv ist, daß sie sich in einer Folge einzelner Entwickelungen zeigt. Diese sprossende, nach und nach sich äußernde Kraft ist mit jener, welche auf einmal eine große Fortpflanzung entwickelt, auf das genauste verwandt. Man kann unter verschiedenen Umständen eine Pflanze nötigen, daß sie immerfort sprosse, man kann dagegen den Blütenstand beschleunigen. Jenes geschieht, wenn rohere Säfte der Pflanze in einem größeren Maße zudringen; dieses, wenn die geistigeren Kräfte in derselben Überwiegen.


114. Schon dadurch, daß wir das Sprossen eine sukzessive, den Blüten- und Fruchtstand aber eine simultane Fortpflanzung genannt haben, ist auch die Art, wie sich beide äußern, bezeichnet worden. Eine Pflanze, welche sproßt, dehnt sich mehr oder weniger aus, sie entwickelt einen Stiel oder Stengel, die Zwischenräume von Knoten zu Knoten sind meist bemerkbar, und ihre Blätter breiten sich von dem Stengel nach allen Seiten zu aus. Eine Pflanze dagegen,[99] welche blüht, hat sich in allen ihren Teilen zusammengezogen, Länge und Breite sind gleichsam aufgehoben und alle ihre Organe sind in einem höchst konzentrierten Zustande, zunächst an einander entwickelt.


115. Es mag nun die Pflanze sprossen, blühen oder Früchte bringen, so sind es doch nur immer dieselbigen Organe, welche, in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten, die Vorschrift der Natur erfüllen. Dasselbe Organ, welches am Stengel als Blatt sich ausgedehnt und eine höchst mannigfaltige Gestalt angenommen hat, zieht sich nun im Kelche zusammen, dehnt sich im Blumenblatte wieder aus, zieht sich in den Geschlechtswerkzeugen zusammen, um sich als Frucht zum letztenmal auszudehnen.


116. Diese Wirkung der Natur ist zugleich mit einer andern verbunden, mit der Versammlung verschiedener Organe um ein Zentrum nach gewissen Zahlen und Maßen, welche jedoch bei manchen Blumen oft unter gewissen Umständen weit überschritten und vielfach verändert werden.


117. Auf gleiche Weise wirkt bei der Bildung der Blüten und Früchte eine Anastomose mit, wodurch die nahe aneinander gedrängten, höchst feinen Teile der Fruktifikation entweder auf die Zeit ihrer ganzen Dauer, oder auch nur auf einen Teil derselben innigst verbunden werden.


118. Doch sind diese Erscheinungen der Annäherung, Zentralstellung und Anastomose nicht allein dem Blüten- und Fruchtstande eigen; wir können vielmehr etwas Ähnliches bei den Kotyledonen wahrnehmen und andere Pflanzenteile werden uns in der Folge reichen Stoff zu ähnlichen Betrachtungen geben.


119. So wie wir nun die verschiedenscheinenden Organe der sprossenden und blühenden Pflanze alle aus einem einzigen, nämlich dem Blatte, welches sich gewöhnlich an jedem Knoten entwickelt, zu erklären gesucht haben; so haben wir auch diejenigen Früchte, welche ihre Samen fest[100] in sich zu verschließen pflegen, aus der Blattgestalt herzuleiten gewagt.


120. Es verstehet sich hiervon selbst, daß wir ein allgemeines Wort haben müßten, wodurch wir dieses in so verschiedene Gestalten metamorphosierte Organ bezeichnen, und alle Erscheinungen seiner Gestalt damit vergleichen könnten: gegenwärtig müssen wir uns damit begnügen, daß wir uns gewöhnen die Erscheinungen vorwärts und rückwärts gegeneinander zu halten. Denn wir können ebensogut sagen: ein Staubwerkzeug sei ein zusammengezogenes Blumenblatt, als wir von dem Blumenblatte sagen können: es sei ein Staubgefäß im Zustande der Ausdehnung; ein Kelchblatt sei ein zusammengezogenes, einem gewissen Grad der Verfeinerung sich näherndes Stengelblatt, als wir von einem Stengelblatt sagen können, es sei ein durch Zudringen roherer Säfte ausgedehntes Kelchblatt.


121. Ebenso läßt sich von dem Stengel sagen, er sei ein ausgedehnter Blüten- und Fruchtstand, wie wir von diesem prädiziert haben, er sei ein zusammengezogener Stengel.


122. Außerdem habe ich am Schlusse des Vortrags noch die Entwickelung der Augen in Betrachtung gezogen und dadurch die zusammengesetzten Blumen, wie auch die unbedeckten Fruchtstände zu erklären gesucht.


123. Und auf diese Weise habe ich mich bemüht, eine Meinung, welche viel Überzeugendes für mich hat, so klar und vollständig, als es mir möglich sein wollte, darzulegen. Wenn solche demohngeachtet noch nicht völlig zur Evidenz gebracht ist; wenn sie noch manchen Widersprüchen ausgesetzt sein, und die vorgetragne Erklärungsart nicht überall anwendbar scheinen möchte: so wird es mir desto mehr Pflicht werden, auf alle Erinnerungen zu merken, und diese Materie in der Folge genauer und umständlicher abzuhandeln, um diese Vorstellungsart anschaulicher zu machen, und ihr einen allgemeinern Beifall zu erwerben, als sie viel leicht gegenwärtig nicht erwarten kann.

4

Batsch, Anleitung zur Kenntnis und Geschichte der Pflanzen. 1. Teil, 19. Kapitel.

Quelle:
Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Band 13, Hamburg 1948 ff, S. 98-101.
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